Und morgen seid ihr tot
verbringen und darf von unserer Anwesenheit nichts erfahren.
Wir sind wie immer beunruhigt, denn die Transfers sind gefährlich, David wird, wenn Nase nicht dabei ist, jedes Mal in Handschellen gelegt, und plötzlich erscheint uns unsere aktuelle Situation als ein unschätzbarer Komfort. Nase hat uns aber noch etwas mitgebracht. Ein kleines Paket, etwas größer als DIN -A5-Format. Er reicht es mir, ich schlage das Papier auseinander und sehe ein neues dickes Notizbuch vor mir, solide eingebunden in dunkles Kunstleder. Die Jungs wissen, dass ich Tagebuch schreibe, wissen sogar seit einiger Zeit, welche Spitznamen sie darin haben. »September und Oktober«, sagt Nase und lacht dabei. Mein Magen wird flau, ich reiße ungläubig die Augen auf, aber er wiederholt es vier, fünf Mal, lacht immer lauter. »Es ist ein Witz«, sagt David zu mir. »Daniela, er hat nur einen Spaß gemacht.«
Egal ob Witz oder nicht, diese zwei Monate setzen sich in meinem Kopf fest. Obwohl ich inzwischen Angst davor habe, mit Zuhause zu sprechen, frage ich Nazarjan, wann wir endlich telefonieren können. Er fragt zurück, in welcher Sprache wir sprechen möchten. Auf keinen Fall dürfte ich weinen, meint er. Wie stellt er sich das vor?
Ich fürchte mich davor, die Stimmen meiner Eltern zu hören, weil die Sehnsucht dann vermutlich unerträglich wird, weil die Distanz sich spätestens nach Unterbrechung der Verbindung wieder endgültig anfühlen wird. Aber ich darf deswegen nicht weinen?
Die Kluft zwischen uns ist plötzlich wieder unüberbrückbar, und ich komme mir vor wie in Kafkas Geschichte »Vor dem Gesetz«, in der ein Mann durch eine Tür gehen will, vor der ein Wächter steht. Dieser Wächter sagt dem Mann, er müsse warten, wie lange, das könne niemand sagen. Der Mann versucht, heimlich durch die Tür zu blicken, der Türhüter sagt, es gebe hinter dem Tor andere Säle, vor denen andere Türhüter stünden … Er wartet Monate und Jahre, er wird alt, schwerhörig und krumm. Er wundert sich, dass niemand sonst durch diese Tür gehen wollte, vor der er so lange gewartet hat, und als er den Wächter fragt, wie das möglich sei, sagt dieser, der Eingang sei nur für ihn, den Mann, bestimmt gewesen, und jetzt, da er sterbe, werde die Tür für immer geschlossen.
Nase übernachtet zum ersten Mal bei uns in der Sandburg. Am nächsten Morgen werden wir davon geweckt, dass Mino, Dumbos fünfzehnjähriger Neffe, unter David das Bettgestell wegziehen will. Wir protestieren, verlangen eine Erklärung, reden mit den anderen und erfahren, dass man ihnen ebenfalls zwei von vier Betten weggenommen hat. Warum? Wir würden umsiedeln. Wann? Das wisse man nicht. Warum man dann schon die Betten wegschaffen müsse, noch während jemand darin schläft? Darauf gibt es keine Antwort. Wie es auf nichts hier eine Antwort gibt. Alles erscheint uns chaotisch, rätselhaft, willkürlich.
Gegen Abend erfahren wir offiziell, dass wir noch heute das Versteck wechseln müssen. Wohin, scheint niemand zu wissen. Wir packen unsere Sachen und haben noch Zeit, ein paar Runden zu laufen. Wir nehmen Abschied von dem Innenhof, in dem wir in fast zwei Monaten Trampelspuren hinterlassen haben, die breitere, tiefere Spur stammt von David, die andere von mir. Fast zwei Monate waren wir hier, seit sechsundsechzig Tagen sind wir gefangen, länger als unsere gesamte Reise davor gedauert hat. In diesen knapp zwei Monaten habe ich einmal durch ein Loch in der Außenmauer sehen dürfen, habe ein paar unbekannte Männer gesehen, einen Esel und einige Autos. Zweimal habe ich auf den Hügeln, jenseits der Mauern, Frauen in Burkas gesichtet, ansonsten habe ich weibliche Wesen nur hin und wieder irgendwo sprechen und rufen gehört.
Um halb neun trifft Nase ein. Unser Gepäck wird in das Auto verladen, und wir erfahren, dass wir fortan in die Behausung mit dem kleinen Hof wechseln sollen, in die wir schon einmal ausgewichen waren. Bei dem Gedanken an die Enge und den Dreck schnürt es uns die Kehle zu. Immerhin soll Hans dort warten, der einzige Mensch, mit dem wir uns passabel verständigen können. Das richtet mich ein wenig auf, David sagt, was er nicht mit eigenen Augen gesehen habe, glaube er nicht mehr.
KAPITEL IV
DIE BÄCKEREI
4. SEPTEMBER BIS 6. NOVEMBER
Der Innenhof unseres neuen Zuhauses ist so eng, dass er wie ein tiefer Schacht wirkt. Auf der einen Längsseite steht ein niedriger Bau mit drei Schlafräumen für die Bewacher, an der Stirnseite eine Toilette
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