Und morgen seid ihr tot
Schließlich sucht David im Müll ein Stück Draht, bastelt daraus einen Haken und fischt den Lappen aus dem Rohr. Depp ist sprachlos und ringt sich am Ende gar ein »Danke« ab. »Denn sie wissen nicht, was sie tun«, sage ich zu David.
Ein andermal versuchen wir Depp von unserem Leben in der Schweiz zu erzählen, aber er schüttelt immer nur verständnislos und zweifelnd den Kopf. Nein, nein, wenn er in die Schweiz fahre, dann nur mit seiner Kalaschnikow. Er glaube nicht, dass man in unserer Heimat keine Waffe auf der Straße trage und man auch ihn daran hindern würde, das zu tun. Guildo mischt sich ein und fragt immer wieder, ob das wirklich wahr sei, ob es nicht einmal Drohnen am Himmel gebe.
Hans hatte uns versprochen, er werde uns bald aufsuchen und über das Ergebnis der Verhandlungen informieren. Er kommt nicht, obwohl er direkt neben uns auf dem Basar sein soll. Er habe Probleme mit seiner Familie, mit seinem Haus. Wir sind fassungslos. Er hat versprochen, immer für uns da zu sein. Auch wenn er keine Zeit hat, mit uns eines der langen Gespräche über den Paschtunwali, über Guerilla- und Drohnen-Krieg zu führen, so sollte er doch wenigstens einmal nach uns sehen. Wir schreiben ihm einen Brief und übergeben ihn unseren Bewachern.
Am Mittwoch, dem 7. September, bringt Depp uns eine zwei Tage alte Zeitung mit, die Frontier Post . Gierig lesen wir jeden noch so unbedeutenden Artikel, wir betrachten Fotos von Usain Bolt, lesen, dass Roger Federer bei den US Open im Viertelfinale steht. Wenigstens auf ihn ist Verlass. Die USA drängen die Schweizer Banken, mehr Kundendaten preiszugeben. Es gibt sie also noch, unsere westliche Welt, und sie scheint zu sein wie immer. Wir spüren gleichzeitig Trost und Wehmut. Dann stoßen wir auf einen Bericht über drei türkische Ingenieure, die nach acht Monaten Geiselhaft von den Taliban entlassen wurden, angeblich habe man vier Monate lang ergebnislos verhandelt. Acht Monate. Das hieße für uns, bis Anfang März, eine unvorstellbar lange Zeit.
Wie immer tun wir solche Analogien ab, wir sind Schweizer, wir haben eine zuverlässige, effiziente Administration, die ihre Bürger nicht im Stich lässt. Immer wieder sagen wir uns das vor.
Wir versuchen, nicht auf Hans oder Nase zu warten, laufen unsere Runden. David hat einen unerschöpflichen Fundus an Spielfilmen im Kopf, deren Handlung er mir sehr anschaulich erzählt, zum Beispiel »Lebenszeichen«. Darin spielt Russell Crowe einen auf Verhandlungen mit Geiselnehmern spezialisierten Kriegsveteranen. Er versucht, einen Ingenieur, der im südamerikanischen Urwald von Rebellen festgehalten wird, zu befreien. »Lebenszeichen« heißt der Film, weil der Ingenieur, der sich während der Verschleppung am Fuß verletzt hat, als Lebensbeweis ein Foto von sich machen muss, in der Hand eine aktuelle Tageszeitung. Als das Foto geschossen wird, schlägt ihm einer der Entführer auf die Wunde, damit die Aufnahme dramatischer wird, weil sie das Opfer mit schmerzverzerrtem Gesicht zeigt. Die Verhandlungen zwischen der englischen Regierung, der südamerikanischen Regierung und der Rebellenführung scheitern, das Leben eines Einzelnen spielt im politischen Machtkalkül keine Rolle. Daraufhin tut sich der Ingenieur mit einer anderen Geisel, einem ehemaligen Fremdenlegionär, zusammen, und sie wagen die Flucht …
Unser Kopfkino lenkt uns manchmal von allem ab, selbst vom Krieg. Bei Explosionen zucken wir immer seltener zusammen. Werden wir härter? Stumpfen wir ab? Wir hoffen nur, dass unsere Psyche nicht nachhaltig beschädigt wird, dass wir in der Schweiz ohne Phobien oder Neurosen werden leben können. Wir wollen nur eins: zurück in unser altes Leben.
Um neun Uhr abends wird plötzlich an das Tor geklopft. Nase steht draußen, in der Hand ein Mobiltelefon. Er gibt uns ein Zeichen, wir sollen ihm folgen. Wir gehen durch den etwa fünfzehn Meter langen überdachten Schlauch, der zwischen Außenmauer und Waschräumen zum Tor führt. Der Wagen von Nazarjan steht davor. Wir müssen einen Moment warten und dann, sobald die Straße leer ist, in das Fahrzeug springen. Wie immer packt mich die Angst. Mein Herz rast. Das Telefon kann nur bedeuten, dass wir mit zu Hause reden werden. Ich hatte eine solche Sehnsucht nach den Stimmen meiner Eltern, und nun fürchte ich mich vor dem Moment, in dem ich sprechen muss.
Durch die getönten Scheiben sehen wir eine staubige Straße, die zwischen hohen Mauern hindurchführt. Männer, ausnahmslos
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