Und morgen seid ihr tot
mit Bart, gehen in langen Gewändern vorbei, auf dem Kopf den typischen runden Talibanhut. Nase sitzt am Steuer, wir auf der Rückbank. Wir wissen nicht, ob wir attackiert werden, wo wir hinfahren … Während die Angst sich um meinen Magen krampft, rollt der Wagen durch die belebten Gassen, Männer hocken in Verschlägen und reparieren alte Radios und Werkzeuge, ein Hammer schlägt auf Metall, es stinkt nach Tierblut und Rauch. Ein paar Gassen weiter stehen zwei vermummte Gestalten. Nase hält, die Männer steigen zu. Es sind Pumba und ein Mann, den wir nicht kennen. Er ist Ende zwanzig, spindeldürr und fast zwei Meter groß. In Kleidung, Haut- und Haarfarbe unterscheidet er sich nicht von den Paschtunen, aber angeblich stammt er aus der Nähe von Köln. Nazarjan hat gesagt, er werde als Übersetzer fungieren, hat uns aber angewiesen, ihm unseren Aufenthaltsort zu verschweigen, wir sollen sagen, wir würden sieben Autostunden entfernt festgehalten. Nur David dürfe mit ihm reden, denn der Deutsche spreche nicht mit Frauen.
Pumba setzt sich mit seinem Sturmgewehr in den Kofferraum, der »Übersetzer« – er nennt sich Schmatulla – klettert auf den Beifahrersitz und begrüßt David. Mich ignoriert er. Falls er in Deutschland aufgewachsen ist, hat er sich die deutschen Gepflogenheiten abtrainiert. Nase kurvt ins freie Gelände und kontrolliert dabei den Empfang auf seinem Handy. Es dämmert, die Orientierung wird immer schwieriger, wir sind alle nervös, alle bis auf Nazarjan. Tausend Rupien, etwa zehn Schweizer Franken, hätten sie auf die Guthabenkarte geladen, sagt er. Wie viele Minuten sind das? Was soll ich zuerst sagen? Ich habe Angst, etwas Wichtiges zu vergessen. Die Furcht vor den vertrauten Stimmen aus der Heimat ist dagegen verflogen. Ich zittere, schaue immer wieder auf das Telefon. Warum gibt es hier kein Netz? Und warum fahren wir dann ausgerechnet hier herum? Seit eintausendsechshundertsechsundfünfzig Stunden warte ich auf diesen Moment, eintausendsechshundertsechsundfünfzig Stunden Warten, eintausendsechshundertsechsundfünfzig Stunden Verzweiflung, Einsamkeit, Todesangst, in denen ich die Verbindung zu meiner Mutter, meinem Vater, den Geschwistern Tanja, Seraina, Matthias immer weniger spüren konnte.
Wo ist dieses verfluchte Telefonnetz, ein kleiner elektromagnetischer Impuls, der die Verbindung wieder herstellt in das sonnige Wohnzimmer, zu dem langen Esstisch, auf dem eine Blumenvase steht, daneben das Klavier, auf dem ich als Kind gespielt habe und auf dem ich jetzt noch manchmal ein paar Takte klimpere, um die Tasten wieder zu spüren oder die Nerven meiner Mutter zu strapazieren?
Der Deutsche gibt uns großspurig Instruktionen, wie wir zu sprechen hätten und worüber, aber Nase fällt ihm ins Wort, wir dürften alles, nur keine Hinweise auf unseren Aufenthaltsort und die Identität unserer Bewacher geben. Daraufhin versucht der Deutsche, unser Vertrauen und unsere Sympathie zu gewinnen, und fängt an, uns Komplimente zu machen. Wir seien unglaublich tapfer, gut in Form und erstaunlich selbstsicher. Ich sehe die Finger von Nase auf der Tastatur, diktiere ihm die Rufnummer meiner Eltern. Wieder und wieder sage ich die Nummer, habe Angst, die Ziffern zu verwechseln oder sie zu vergessen. Wie eine Litanei rattere ich die Zahlen herunter, während Nase hält, wieder ein paar Meter durch die Wüste fährt, wendet, einen Fluss durchquert. Alle Versuche, eine Verbindung aufzubauen, schlagen fehl.
Dann hören wir plötzlich ein deutliches »Ja« aus dem Lautsprecher, danach: »Daniela?« Die Stimme meines Vaters. Beat. Ich sehe ihn vor mir, wie er zu Hause auf dem Sofa sitzt, die schlanken Beine übereinandergeschlagen, den Hörer in der Hand. Ich rufe: »Papa!« Er beginnt zu schreien: »Daniela! Daniela! Daniela!!!« Seine Stimme bebt, er beginnt zu weinen.
Nase gibt mir das Handy. Dann ertönt die Stimme meiner Mutter, ganz dicht am Hörer. »Mausiii!«, ruft sie. Neunundsechzig Tage lang habe ich auf diesen Augenblick gewartet. Ich wusste, dass ihre Stimmen wie ein Stich in meine Brust sein würden.
»Ich liebe euch so«, sage ich, »ich liebe euch alle beide, ich liebe euch …« Ich weine nicht. Auch meine Mutter weint nicht, nur mein Vater, er schluchzt und heult und schreit wie ein Besessener. Mein Vater, der eiserne Selfmademan, kommt mit seiner Stimme gegen die Tränen nicht an.
»Bei uns ist keine Forderung eingegangen«, sagt meine Mutter, »bei uns ist keine Forderung
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