Und morgen seid ihr tot
Klangschale abzunehmen. Junkie hatte behauptet, sie sei kostbar, mehrere Hundert Dollar wert, und deshalb wolle er sie für sich behalten. Wir hatten immer versichert, sie habe nur einen Bruchteil gekostet, habe aber eine religiöse Funktion und sei für uns sehr wichtig. Daraufhin äußerte Junkie den Verdacht, in der Klangschale sei ein Chip versteckt, oder wir könnten mit ihrem Ton eine Drohne oder die Armee anfunken. Nazarjan weiß vielleicht nicht, was er uns da zurückgegeben hat, für uns ist es ein Teil unserer Würde. David, der die Schale von nun an immer mit ins Bett nehmen wird, beginnt, mit dem Holzklöppel über den Rand zu streichen, die schwere, mit ziselierten Mustern versehene Messingschale zum Schwingen zu bringen. Ein tiefer Ton erfüllt den Raum, Obertöne mischen sich darunter, zuerst eine Oktave, dann ein Quinte, ein Akkord baut sich auf, schwebt bis unter die Zimmerdecke und durch den Hof, und für einen Moment ist wieder alles so wie in unserem Bus, wie an den Abenden, wenn wir müde und zufrieden das Licht ausschalteten und David mit seinen Klängen das Heulen des Windes, fremde Stimmen auf der Straße, Hundebellen und alle erdenklichen Geister bannte.
Nase hat zudem unsere Kleider und Makkaroni mitgebracht, außerdem frisches Obst. Dumbo tischt Fladenbrote und Fleisch auf, und Nase ist erstaunt, welche Fleischrationen Dumbo stets vorrätig hat. Er zeigt uns einen Stapel Briefe, die er in der Hemdtasche trägt. Bittgesuche von Mudschahedin, die im Gefängnis sitzen. Dann sagt er, unser Brief habe ihn sehr zum Lachen gebracht. In »unserem« alten Innenhof säßen jetzt drei Spione, die sie gefangen hätten. Die Spione hätten Autos mit GPS -Sendern präpariert, um Ziele für Drohnenangriffe zu markieren. Gewöhnlich werden solche Spione vor laufender Kamera erschossen. Dann trennt man ihnen den Kopf ab und stopft ihnen eine Dollarnote in den Mund. Neben die Leiche wird ein Zettel gelegt, auf dem in Englisch steht, wer mit der Regierung kooperiere, den ereile dasselbe Schicksal. Die Banknote ist eine Anspielung auf die hohen Prämien, die ISI und CIA Spionen und Denunzianten zahlen, auf Wali-ur Rehman sind zum Beispiel fünf Millionen Dollar ausgesetzt.
»Was hat Islamabad gesagt?«, wollen wir wissen. »Nichts. Bisher ist keine Antwort eingegangen«, meint Nase. »Aber Hans hat euren Eltern mit Hilfe eines Deutschen eine E-Mail geschrieben. Darin ist ihnen mitgeteilt worden, dass wir einhundert Mudschahedin verlangen. Und dass wir euch töten, wenn die Forderung nicht erfüllt wird.«
Wie immer sage ich mir vor, die Drohungen sind Teil der Taktik. Sie werden uns nicht töten, während ich meine Mutter vor mir sehe, wie sie den Mailaccount öffnet, einen fremden Absender entdeckt, vielleicht im ersten Moment, aus Angst vor einem Virus, die Mail löschen will, ehe ein Funken Hoffnung in ihrem Kopf aufscheint: Daniela. Und dann diese Zeilen. Hundert Mudschahedin – oder ich bin tot. Wie soll ich für die Freilassung von hundert Mudschahedin sorgen?, wird sich meine Mutter fragen.
Nase geht, nachdem ich wie immer gefragt habe, wann er wiederkommen wird, in einer, zwei oder drei Wochen? »In einer, inschallah«, ist seine Antwort, dann schwebt er durch den Innenhof, steht vor dem Eisentor, bis sein Toyota vorgefahren ist. Als man den Motor hört, dreht er sich noch einmal um, nickt und verschwindet in der Dunkelheit. Für hundert Stunden, oder zweihundert, tausend …
Da David im Hof ist, wagen die Frauen sich in unser Zimmer herein, um zu hören, was ich erfahren habe. Sie sehen die Tränen in meinen Augen und verstehen. Ihr Blick ist ernst, vielleicht ist eine Prise Mitgefühl dabei, aber vor allem verstehen sie, dass der prekäre Zustand weitergeht, auch für sie. Geiseln in ihrem Heim, eine mysteriöse Operation der Taliban, der ranghohe Commander Nazarjan, von dem sie nur Legenden kannten und der nun jederzeit in ihrem Hof auftauchen, ihr Zuhause in ein Kriegsziel verwandeln kann. Das Pferd, das er bei ihnen untergestellt hat, das frisst und defäkiert …
Ich teile mit ihnen das Obst, und dann gehe ich mit David laufen, um mich abzureagieren, um alles zu überdenken und am Ende etwas Positives zu finden.
Aber das ist nicht leicht. Die Todesdrohung wurde wieder nur ausgesprochen, um den Druck zu erhöhen, sie dient zur Beschleunigung unserer Freilassung, sagen wir uns. Aber wann verlieren die Taliban die Geduld? Werden sie uns nicht doch erschießen, damit bei der nächsten
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