Und morgen seid ihr tot
Entführung ihren Forderungen schneller nachgegeben wird?
Die Tage schleichen dahin. Wieder leiden wir unter heftigem Durchfall. Es wird kalt, wir müssen Nazarjan um Schuhe und Socken bitten, wir liegen entkräftet auf den Betten, träumen von der Freiheit, Gedanken an Flucht nehmen Gestalt an. David springt plötzlich auf, läuft wie ein Tier im Zimmer auf und ab und fängt an, Präsident Zardaris Namen zu schreien.
In der Zeitung lesen wir, dass der Schweizer Botschafter in Islamabad einen »Tag der offenen Tür« veranstaltet hat, mit Raclette, Hot dogs und Schweizer Schokolade. Angeblich ein voller Erfolg. Alles erscheint uns wie eine Verhöhnung unserer Situation.
Eines Morgens – Dumbo ist zum Basar gefahren – sitzt Mino bei uns im Innenhof und behauptet, er habe das Moped seines Onkels gehört. Wir haben das Bett in die Sonne gestellt, versuchen uns mit der Lektüre alter Zeitungen abzulenken und denken: »Dieser ewige Dummschwätzer, Dumbo ist noch nie vormittags um zehn zurückgekommen.« Man hört weder den Motor noch die typische Hupe. Aber es klopft. Und tatsächlich kommt Dumbo durch das Eisentor und formt mit den Händen eine Kamera. Wir sind sofort hellwach, das Adrenalin schießt in die Muskeln. Mino bekommt den Befehl, die Zimmertüren und Fensterläden zu verriegeln. Da tritt eine vermummte Gestalt in den Hof. Als sie näher kommt, erkennen wir den Taliban, den wir »Nases zweiten Assistenten« nennen: Hamza. Ein relativ sportlich gebauter junger Mann mit gepflegtem Bart und einem leichten Sprachfehler. Er kann das »R« nicht richtig rollen.
Er stellt sich vor unser Bett, begrüßt David, reicht mir die Hand. Er setzt sich neben David und fragt, wie es uns gehe. Wir starren weiter aufs Tor und hoffen auf Nase. »Es ist etwas passiert«, sage ich zu David. »Nicht einmal zur Sandburg ist Nase tagsüber gekommen.« Ich spüre, wie mein Herz rast, das Blut in Kopf und Glieder pumpt. Der Assistent kramt in seiner Brusttasche und holt zwei Zettel hervor. Das eine ist eine 1000-Rupee-Note, das andere ein Notizzettel mit Hans’ Handschrift.
Der Assistent gibt David den Zettel. Einzelne Wörter springen mich an: »Lebensbeweis«, »letzter Schritt«, »das Ziel ist nahe«.
Ich sehe alles nur noch verschwommen, meine Augen sind voller Tränen. Es ist so weit. Ich springe auf, »David, es ist so weit«, rufe ich. »Die Antwort ist da, wir gehen nach Hause.«
Die Frauen, die sich in ihr Zimmer zurückgezogen haben, spähen durch den Spalt ihres Fensterladens. Ich renne hinüber zu ihnen, reiße die Tür auf und rufe: »Wir können gehen!« Die Frauen umarmen mich, beginnen ebenfalls zu weinen, wir hüpfen gemeinsam. Dumbo sitzt auf dem Bett, kaut Fleisch und betrachtet uns amüsiert.
Der Brief ist auf Englisch verfasst. Er lautet:
1. Ich komme aus der Schweiz.
2. Mein Name ist:
3. Mein Vater heißt:
4. Ich wurde in Quetta entführt.
5. 1000-Rupee-Note Nr. BP 979 …
Mr David, dies ist der Lebensbeweis. Ihr müsst ein Video drehen und die oben erwähnten Punkte aufs Band sprechen. Dies ist der letzte Schritt. Das Ziel ist nahe.
Ali (Hans)
Dumbo spannt das Tuch des Jungen hinter dem Bett an die Wand. David wird aufgefordert, seine Haare zu bürsten, Dumbo nimmt mir den Turban ab und bindet mir stattdessen sein eigenes Tuch auf den Kopf. Der Assistent holt ein neues Nokia-Handy aus der Hemdtasche und beginnt zu filmen. Zuerst spricht David, dann spreche ich auf Englisch, die Banknote halten wir in Händen, lesen die Nummer ab.
Der Assistent kontrolliert mit uns die Qualität des Videos, ist zufrieden, packt alles wieder ein und meint, in etwa fünf Tagen könnten wir gehen. Wie viele Gefangene für uns eingetauscht würden, wisse er nicht.
Wir sind in heller Aufregung. Wir bekommen zu essen, debattieren, laufen Runden. Präsident Zardari hat offensichtlich die Banknote und womöglich sogar das Handy geschickt, und sobald der Schein mit dem Video zurückkommt, weiß er, dass er mit den richtigen Leuten verhandelt hat. Wir kalkulieren die Zeiträume: zwei, drei Tage für den Boten, der nach Islamabad fahren muss, ein, zwei Tage für die Bereitstellung des Geldes, die Übergabe an geheimem Ort. Insgesamt fünf Tage, vielleicht eine Woche. Heute ist der 26. November, Anfang Dezember könnten wir zu Hause sein. Kurz vor Nikolaus, Advent. In der Schweiz liegt dann schon Schnee, wir können Ski fahren …
Dumbo ist mit dem Assistenten verschwunden, und wie immer sehnen wir uns
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