Und morgen seid ihr tot
nach seiner Rückkehr, obwohl wir ihn verabscheuen. Vor allem David kann schlecht akzeptieren, dass ein so opportunistischer Mensch ohne Ideale, ohne Rückgrat so viel Macht über uns hat. Als er endlich am Nachmittag wieder auf den Hof tuckert, kann er uns nur die üblichen wirren Antworten geben. Es dauere noch einen Monat, die amerikanische Armee habe die afghanische angegriffen, deshalb sei der Geldtransfer schwierig. Wir einigen uns darauf, dass Dumbo nicht einmal weiß, dass er nichts weiß. Aber wir müssen Gewissheit haben, ob die Antwort aus Islamabad eingetroffen ist. Dies ist die Basis für alle weiteren Überlegungen. Immer wieder rufen wir uns den Wortlaut von Hans’ Brief ins Gedächtnis. Leider hat der Assistent ihn mitgenommen, aber wir sind sicher, dass darin stand: Dies ist der letzte Schritt.
Wir wollen auch den letzten Zweifel beseitigen und schreiben Nase einen Brief, versehen mit einer Zeichnung, auf der man das Video, die gefangenen Mudschahedin, den Boten aus Islamabad erkennt. Verdeutlicht wird nur eine Frage: Ist die Antwort aus Islamabad eingetroffen?
Am nächsten Morgen um 8.20 Uhr knattert Dumbo mit seinem Moped und dem Brief Richtung Basar davon. Und dann beginnt das Warten. Wie immer. Diesmal warten wir jedoch nur auf ein Stück Papier. Unsere Gespräche drehen sich im Kreis, die Mitbewohner im Hof machen uns nervös. Immerzu stellen sie Fragen, die beweisen, dass sie keinen Zeitbegriff haben, keinen Begriff von unserer Lage, von unserer Todesangst.
Die Tage verstreichen, von Nase kommt keine Antwort. Wir versuchen es mit einem weiteren Brief, der noch simpler ist. Neben »Answer Islamabad« muss Nase nur ein Kreuz machen. Entweder neben »Yes« oder neben »No«.
Am 29. November bringt Dumbo den Zettel zurück. Es ist ein Kreuz darauf. Das Kreuz ist neben »No«. Immer wieder halte ich den Zettel gegen das Licht der Taschenlampe, um zu kontrollieren, ob Nase nicht vielleicht doch »Yes« angekreuzt hat. Ich drehe und wende den Zettel, den wir wochenlang herbeigesehnt haben. Aber es bleibt bei »No«.
Der Monat November endet, der sechste Monat unserer Gefangenschaft beginnt. Wir wissen weniger denn je, wie viele Monate es noch werden. Und ob wir je wieder nach Hause dürfen. Manchmal denken wir, dass man uns schlichtweg vergessen hat. Vierundzwanzig Jahre brauchte Marco Polo, um wieder nach Hause zu kommen. In vierundzwanzig Jahren bin ich über fünfzig. Eine alte Frau. Die kinderlos geblieben ist, falls ich nicht in Waziristan Mutter werde.
Marco Polo überzeugte den Kublai Khan, ihn ziehen zu lassen, indem er sich erbot, eine seiner Töchter nach Persien zur Hochzeit zu begleiten. Eine Hochzeit könnte auch unsere Chance sein, wegzukommen. Denn im Nachbarhaus wird eine Vermählung gefeiert. Die Frauen schminken sich, verschwinden unter der Burka und verlassen zum ersten Mal seit einem Monat das Haus. Bis auf Dumbos hochschwangere Frau Chobana und Mino ist niemand mehr in unserer Nähe. Wir sind praktisch unbewacht, aber wir sind verzweifelt, antriebslos, haben Mühe, uns aus dem zerschlissenen Schlafsack zu schälen. Inzwischen ist es bitterkalt, und wenn der Strom ausfällt, erlischt die Heizspirale. Wir frieren Tag und Nacht.
Ich weine und werde von Chobana zurechtgewiesen, das sei unanständig. Wir haben immer größere Mühe, diese mit Koranzitaten begründeten Gefühllosigkeiten zu ertragen.
Bei dem Gedanken, dass in der Schweiz der Advent beginnt, dass am 2. Dezember unsere Freundin Muriel ihren Geburtstag ohne uns feiert, zieht es mir den Magen zusammen. David hat Mühe, in den Schlaf zu finden, seine Gedanken befinden sich in einer Endlosschleife, und wenn wir uns erheben, zittern wir und leiden unter Drehschwindel. Wir haben Bauchkrämpfe, es kostet uns eine ungeheure Überwindung, unser Trainingsprogramm anzugehen.
An diesem 2. Dezember, an dem wir in unserem muffigen Zimmer Muriel ein trauriges Ständchen singen und ihr einen Brief schreiben, sie möge uns bitte nicht vergessen, wir dächten jeden Tag an sie, kommt Dumbo gegen Abend hektisch in den Hof gebraust. Mino schickt uns ins Zimmer zurück, es komme ein Mann zu Besuch, der nichts von Dumbos Taliban-Dasein weiß. Dumbo und sein Neffe setzen sich zu uns aufs Bett, sie haben Hals und Rippen eines Hühnchens in Fladenbrot mitgebracht, und wir essen flüsternd.
Dann geht plötzlich die Tür zu unserem Zimmer auf, und im Dunkeln kommt eine Gestalt herein. Ich gerate beinahe in Panik. Doch die
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