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Und Nachts die Angst

Und Nachts die Angst

Titel: Und Nachts die Angst Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Carla Norton
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schaut ihr wispernd über die Schulter, nutzt jeden noch so schmalen Spalt, um sich in ihre Träume zu zwängen. Sie reibt sich die Hand; sie hasst die Tatsache, dass er dort verewigt ist, eingekapselt in der Taubheit, die sich von ihrem linken Handgelenk bis in den kleinen Finger zieht. Hätte sie das nach all den Jahren nicht längst hinter sich lassen sollen, was immer in den Nachrichten zu hören ist?
    Die Nachrichten.
    Der Fernseher ist ein schwarzes Loch, das sie anzieht. Die Fernbedienung liegt auf dem Couchtisch, eine Herausforderung. Sie zögert, nimmt sie, hält den Atem an und schaltet die Morgennachrichten ein.
    Sie lässt sich gerade auf dem Sofa nieder, als das Telefon erneut klingelt. Als sie Dr. Lerners Nummer sieht, geht sie dran und grüßt mit einem knappen: »Hallo.«
    »Hallo, Reeve, wie geht’s Ihnen?«
    »Sie wissen, wie es mir geht.«
    »Ich kann mir vorstellen, dass Sie aufgewühlt sind.«
    Sie schnaubt unglücklich.
    »Alpträume? Flashbacks?«
    Sie weicht seiner Frage aus. »Ach, ich mach mir gerade eine Piña Colada und träller so vor mich hin.«
    »Sie sind wütend?«
    »Nur angefressen. Sauer auf die Medien. Auf alle.«
    »Auf mich? Es tut mir leid, dass ich den nächsten Termin absagen musste. Ich hoffe, Sie können verstehen, dass ich hier sein muss bei …«
    »Bei dem Mädchen und seiner Familie. Natürlich verstehe ich das. Sie brauchen Ihre Hilfe.«
    »Und Sie können das besser als jeder andere nachvollziehen.«
    »Allerdings.«
    »Aber Sie sind sauer, weil …?«
    »Ach, es geht darum, dass die ganze bescheuerte Medienmaschinerie jetzt wieder hochfährt. Man sieht doch genau, worauf es hinauslaufen wird.« Sie holt tief Luft, als die Welle der Wut über ihr zusammenschlägt, und die Worte brechen aus ihr heraus. »All die schwafelnden Möchtegernexperten, die posttraumatische Belastungsstörung nicht mal richtig schreiben können, die sich keine fünf Minuten Gedanken gemacht haben, was genau das eigentlich heißen soll! Jetzt sind sie wieder auf allen Kanälen zu sehen und rasseln Opfer- und Entführernamen runter wie eine beschissene Einkaufsliste, als ob wir alle Prominente ohne Recht auf Privatsphäre sind. Und gleichzeitig sitzen diese Dreckschweine sabbernd im Knast und holen sich einen daran runter, dass ihre kranken Psycho-Brüder die Gegend unsicher machen und widerwärtigen, perversen Scheiß anstellen.«
    Sie redet nun schneller, die Stimme wird schriller. »Und schon veröffentlichen sie alte Fotos von mir und ziehen Vergleiche und quatschen, quatschen, quatschen, und ich bin wieder in den Nachrichten, und alles ist wieder in den Nachrichten, und jetzt muss ich mich wieder mit all diesen Bildern und diesen beschissenen Erinnerungen an Daryl Wayne Flint auseinandersetzen, als hätte ich das alles nicht schon viel zu oft getan!«
    Eine ganze Weile herrscht Schweigen. Ihre Augen sind nass, und sie wird feuerrot vor Verlegenheit.
    »Wow«, sagt er. »Das war gut.«
    »Haha«, erwidert sie tonlos.
    »Ich meine es ernst. Haben Sie sich gehört? Haben Sie die Wut in Ihrer Stimme gehört?«
    »Ja, schon gut, ich weiß. Tut mir leid.« Sie zieht ein Gesicht.
    »Aber das war wirklich gut. Ich meine, nicht jeden Tag, aber heute ist diese Reaktion mehr als gerechtfertigt.«
    »Na ja, es ist irgendwie mit mir durchgegangen«, brummelt sie.
    »Erinnern Sie sich nicht mehr, wie Sie am Anfang waren? Ihre Empfindungslosigkeit?«
    Sie schluckt. Ja, sie erinnert sich. Nachdem man sie aus dem Kofferraum von Flints zerdrücktem Wagen befreit hatte, hatte sich das Leben in Zeitlupe entwickelt. Die plötzliche Geborgenheit ihres Zuhauses, sogar die Umarmungen ihrer Familie hatten in ihr Orientierungslosigkeit erzeugt. Sie war in eine Welt gekommen, die sich wie ein fremder Planet anfühlte. Keiner sprach ihre Sprache. Niemand verstand sie.
    »Wissen Sie noch?«, fragt Dr. Lerner erneut.
    Sie war vergewaltigt, geschlagen, verbrannt, gepeitscht, ausgehungert und fast ertränkt worden. Sie hatte geglaubt, sterben zu müssen. Sie hatte es sich gewünscht. Und als es vorbei gewesen war, hatte sie sich als seltsam andersartig empfunden, als hatte man in ihr etwas abgetötet, das für das Menschsein notwendig war. »Ich war wie ein Zombie. Affektive Verflachung haben Sie es genannt.«
    »Genau. Nichts konnte Ihnen mehr als ein Schulterzucken entlocken.«
    »Ich weiß noch, ja.«
    »Tja, Tilly Cavanaugh ist im Augenblick in einem ähnlichen Zustand.«
    »Sie steht unter Schock.«
    »So könnte

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