Und Nachts die Angst
man es sehen, ja.«
»Posttraumatischer Schock.«
»Absolut. Als erster Eindruck ist das korrekt.«
»Okay.« Ihre Atmung ist nun unter Kontrolle, und sie sitzt auf einem Küchenhocker und hat die Ellbogen auf die Theke gestützt. »Was genau wollen Sie also sagen?«
»Hören Sie sich einfach zu, Reeve. Der Zorn, den Sie empfinden, ist verständlich und gesund. Er zeigt, wie stark Sie geworden sind.«
Darauf sagt sie nichts. Ihr fällt ein, dass sie ihm wegen der Alpträume nicht die Wahrheit gesagt hat, und findet, dass es Zeit ist, das Gespräch zu beenden. Sie sagt ihm, sie müsse nun Schluss machen, aber Dr. Lerner bittet sie noch um eine Minute.
»Ich weiß, dass es für Sie eine Zumutung ist«, sagt er, »aber Tillys Mutter möchte mit Ihnen sprechen.«
»Wozu?«
»Sie würde sich gerne bestätigen lassen, dass ich der Richtige bin, um ihre Tochter zu behandeln. Und sie hofft, na ja, dass Sie ihr aufrichtig von Ihrer Erfahrung erzählen.«
»Sie meinen, sie braucht so etwas wie eine Referenz?«
»Na ja, vielleicht eher eine Art Mutter-Tochter-Gespräch, verstehen Sie? Weil Sie und Tilly etwas Ähnliches erlebt haben. Mrs. Cavanaugh würde am liebsten mit Ihnen direkt sprechen. Sie meint, dass es ihr helfen würde, ihr die Befangenheit mir gegenüber zu nehmen.«
Reeve ist sprachlos. Dass jemand Dr. Lerners Kompetenz in Frage stellt, ist kaum zu glauben, und der Gedanke, dass sie einen Einfluss auf die Behandlung einer anderen Person haben könnte, kommt ihr regelrecht grotesk vor.
»Wissen Sie noch, wie Beth Ihnen bei Ihrem Verarbeitungsprozess geholfen hat?«, hakt er nach.
»Ja, sicher. Sie war wie ein …« Die Erinnerung spült über sie hinweg. »Es klingt dämlich, aber sie ist mir immer wie ein Engel oder so was vorgekommen.«
»Ja, sie hat sich sehr viel Zeit genommen, vielleicht auch, weil Ihre Eltern sie um Hilfe gebeten haben. Also können Sie nicht verstehen, warum Mrs. Cavanaugh Sie um etwas Ähnliches bittet?«
»Aber ich bin doch keine … Warum tut es Beth nicht?«
»Ihr Fall unterscheidet sich sehr von dem hier, wie Sie wissen, außerdem liegt er zeitlich schon länger zurück. Daher fragt man eben Sie.«
»Aber ich kann nicht …«
»Sie müssen sich nicht sofort entscheiden. Denken Sie einfach mal drüber nach, okay? Lassen Sie sich die Sache durch den Kopf gehen, verbringen Sie einen schönen Feiertag mit der Familie, und wir reden danach weiter.«
Reeve stöhnt leise auf. Typisch Dr. Lerner. Irgendwie schafft er es immer, ihre Argumente umzukrempeln.
Seine sanfte Stimme fährt fort. »Ich weiß, dass ich viel von Ihnen verlange, aber vergessen Sie bitte nicht, dass diese Eltern genau so überfordert sind wie Ihre vor sechs Jahren.«
»Aber wie kann irgendwas, das ich …«
»Überlegen Sie einfach, was Sie davon halten, und wir reden, wenn Sie bereit dazu sind, einverstanden?«
8. Kapitel
Jefferson City
A m Mittwochmorgen in der Polizeizentrale marschiert der Mann, der sich Duke nennt, auf eine Tür mit dem Schild OBSERVATIONSEINHEIT zu. Ihm folgt ein anderer Mann, der ihm von Statur und Haarfarbe ähnlich, jedoch jünger und fitter ist und einen elastischen Gang, mehr Farbe im Gesicht, mehr Übermut in den Augen hat.
Duke betritt sein Büro und hat schon fast den Mantel ausgezogen, als der jüngere Officer den Türrahmen packt und sich hinter ihm hereinschwingt. Grinsend federt Officer Tomas Montoya den Sprung auf den Ballen ab. »Weißt du schon das Neueste?«
Duke setzt sich auf seinen Stuhl, bevor er antwortet. Wenn er mit Montoya zu tun hat, nimmt er immer denselben scherzhaften Tonfall an, und er braucht einen Moment, um in diese Rolle zu schlüpfen. »Lass mich raten«, sagt er mit einem anzüglichen Grinsen. »Hast du eine rumgekriegt?«
»Das wär nichts Neues«, erwidert Montoya verächtlich, »sondern Routine. Aber hör zu – die Schlagzeile von heute. Zu Randy Vanderholt.«
Duke zieht eine Augenbraue hoch.
Montoya füllt den ganzen Türrahmen aus. »Du weißt schon, der Pädophile, der die kleine Cavanaugh entführt hat?«
»Ich weiß, wer er ist, Montoya.« Duke verdreht die Augen, damit man ihm die Spannung nicht an der Miene ablesen kann. »Was ist denn mit ihm?«
»Er hat sich erhängt!«, sagt Montoya fröhlich.
»Im Ernst?«
»Jep. Man hat ihn heute Morgen gefunden.«
»Tja, das hat ja nicht lange gedauert, was?« Duke lehnt sich in seinem Ledersessel zurück und erlaubt sich ein Lächeln. Auf Montoya, der bei verschiedenen Einsätzen
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