Und Nachts die Angst
blinzelt. »Einmal Psychiater, immer Psychiater, was?«
»Ertappt.«
»Okay.« Sie legt die Gabel ab. »Es klingt ziemlich prosaisch, nehme ich an, aber Tilly zu sehen macht mir klar, wie weit ich gekommen bin. Vielleicht bin ich nicht so herzlich und klug wie Beth, aber auch ich kann eine solche Aufgabe übernehmen. Ich kann helfen.«
Er schenkt ihr ein Lächeln und hebt leicht sein Glas zum Toast. »Sie sind in der Tat einzigartig qualifiziert. Und Sie sind eine enorme Hilfe.« Er macht eine kleine Pause, dann fügt er an: »Tillys Eltern haben mir mehr als einmal gesagt, wie dankbar sie sind, dass Sie ihrer Bitte entsprochen haben. Am liebsten wäre es ihnen, wenn Sie blieben.«
»Was?«
»Keine Sorge. Ich habe ihnen bereits gesagt, dass das nicht geht.«
»Eben. Sie sind ihr Therapeut«, murmelt sie und reibt sich geistesabwesend den winzigen Knubbel in ihrem kleinen Finger, wo der Knochen wieder zusammengewachsen ist. »Wie kommen sie denn überhaupt auf so eine Idee?«
»Sie sehen, dass Tilly eine Beziehung zu Ihnen aufbaut, und hätten es gerne, wenn Sie auch weiterhin zu ihr kämen, aber ich habe ihnen erklärt, dass das etwas zu viel verlangt ist und diese Treffen quälende Erinnerungen in Ihnen hervorrufen.«
»Na ja, schon.« Sie legt den Kopf schief. »Aber sind sie denn wirklich der Meinung, dass ich etwas bewirke? Tilly scheint mir so …«
»Der Weg wird steinig, so viel ist sicher. Für sie alle. Die Cavanaughs müssen momentan enorme Dinge verarbeiten. Das geht nicht anders.«
Mitleid für Tillys Familie macht sich in Reeve breit, und sie hat ein schlechtes Gewissen beim Gedanken daran, wie sie damals ihre Eltern behandelt hat. Wie mürrisch sie war! Wie selbstsüchtig. Stundenlang hat sie sich in ihrem Zimmer verbarrikadiert und sich selbst und alle anderen mit Einsamkeit bestraft.
Dr. Lerner beugt sich vor und spricht leise, aber eindringlich. »Tilly fängt gerade erst an, sich ihr Leben zurückzuerobern, und Sie wissen, wie lange der Heilungsprozess dauert.«
»Klar. Ich kann wohl besser als jeder andere nachvollziehen, was sie gerade durchmacht.« Sie zieht die Stirn kraus. »Wenn sie also wollen, dass ich bleibe, sollte ich das vielleicht tun.«
»Oh, nein, das kann niemand von Ihnen erwarten. Sie haben genug getan. Jeder versteht, wenn Sie …«
»Will Tilly es denn auch?«
»Na ja, natürlich, aber …«
»Also gut. Wenn ich Tilly helfen kann, dann bleibe ich.«
Er schüttelt den Kopf. »Ich bin nicht sicher, dass das eine gute Idee ist.«
»Warum nicht? Sie haben gerade selbst gesagt, dass ich einzigartig qualifiziert bin.«
»Na ja, aber das ist eine ernste …«
»Haben Sie eben nicht indirekt daran gezweifelt, dass Tillys Familie dazu befähigt ist, ihr zu geben, was sie braucht? Dass sie sich selbst erst an die Situation anpassen müssen und die Umstellung schmerzlich ist?«
»Reeve, Sie können doch nicht …«
»Hören Sie, der Hauptgrund, warum ich hier bin, ist doch, dass unsere Fälle sich so ähnlich sind, weil Tilly und ich ungefähr das gleiche Alter hatten, als wir entführt wurden, und wir beide von einem Sadisten gefangen gehalten worden sind.«
Er zuckt zur Bestätigung mit den Schultern.
»Aber da ist noch mehr. Wir sind fast wie Schwestern. Und ich verstehe sie auch, weil ich viel Fachliteratur gelesen habe. Das wissen Sie, oder?«
»Ja, sicher.«
»Ihre wissenschaftlichen Artikel habe ich alle gelesen.«
Er verzieht die Lippen zu einem halben Grinsen. »Fishing for compliments?«
»Ich habe auch Lawler, Auerbach, Zarse und Ochberg gelesen.«
Er zieht die Augenbrauen hoch. »Ich bin beeindruckt. Aber ich bezweifle, dass Sie auch die Texte der Profiler, der Jungs von der FBI-Abteilung für Verhaltensforschung, kennen.«
Sie beugt sich vor und klopft bei jedem Namen auf den Tisch. »Dietz. Hazelwood. Douglas. McCrary. Ressler.«
»Und was ist mit Cantor und Price aus Australien? Und Favaros Studie über traumatisierte Entführungsopfer in Italien?«
»Bitte.« Sie verdreht die Augen. »Favaros Studie war ziemlich schwach, zumindest, was die Folgen längerer Gefangenschaften angeht.«
»Das haben Sie alles gelesen?«
»Also?«
Er lacht. »Okay, der Punkt geht an Sie. Sie haben sich ja fast einen Ehrentitel erarbeitet.« Er trinkt einen Schluck Wasser, ohne sie aus den Augen zu lassen.
»Verstehen Sie mich nicht falsch, ich will Sie nicht ersetzen. Sie sind ihr Therapeut. Aber Tilly hat keine Schwester oder Freundin, mit der sie reden
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