Und Nachts die Angst
Hände im Schoß sind fest verschränkt. Ihre Miene ist nicht zu deuten.
»Und was Dr. Lerner angeht – wenn du ihn um Hilfe bittest, dann findet er eine Möglichkeit. Er nimmt seinen Auftrag sehr ernst. Er ist damals bis nach Seattle gekommen, um mit mir zu reden, und ohne ihn wäre ich verloren gewesen.«
Doch statt dass ihre Worte das Mädchen trösten, wird es noch unruhiger. »Und du? Redest du mit Dr. Lerner?« Tilly wendet die Augen ab. »Ich meine, über mich?«
»Nur ganz allgemein.« Reeve setzt sich wieder aufs Bett. »Also wenn du willst, dass ich was für mich behalte, dann tue ich das auch.«
»Wirklich?«
»Ja. Wirklich.«
Tilly denkt nach und betrachtet sie wachsam.
»Übrigens ist auch Dr. Lerner sehr verschwiegen. Er erzählt mir nichts über das, was du mit ihm besprichst. Das darf er ohne deine Erlaubnis gar nicht, und das wäre für ihn auch moralisch nicht okay. Was immer du also unter vier Augen mit mir bereden willst, bleibt unter vier Augen.« Reeve hat sich darüber nie Gedanken gemacht, aber plötzlich weiß sie, dass es der Wahrheit entspricht.
»Du sagst also nichts weiter? Wenn ich dir ein Geheimnis erzähle, bleibt es ein Geheimnis?«
»Solange du das willst, versprochen.« Prompt fällt Reeve ein, dass Burke ihr eingetrichtert hat, haarklein zu berichten, was immer das Mädchen sagt, aber Jackie Burke kann sie mal.
Tilly rutscht vom Bett, stellt sich vor sie und starrt sie eindringlich an. Reeve sieht eine innerlich zerrissene Kindfrau, die etwas Schreckliches zu quälen scheint. »Ehrlich? Kann ich dir wirklich vertrauen?«
»Ja, kannst du.«
Tilly schließt für einen kurzen Moment die Augen. Sie schaudert, und das Beben scheint von innen heraus zu kommen wie bei einem Welpen, der sich das Wasser aus dem Pelz schüttelt. Dann schlägt sie die Augen auf und flüstert: »Versprichst du mir, absolut keinem zu verraten, was ich dir jetzt sage?«
»Absolut keinem, das verspreche ich.«
»Niemandem, nicht einmal Dr. Lerner?«
»Keiner Menschenseele.«
»Kannst du das schwören? Ich meine, sozusagen aufs Grab deiner Mutter?«
Reeve blinzelt, aber dann hebt sie langsam eine Hand. »Ja, Tilly Cavanaugh, hiermit schwöre ich feierlich, keiner Menschenseele zu verraten, was du mir erzählst. Aufs Grab meiner Mutter.«
Tilly starrt sie an, ohne zu blinzeln, und Reeve starrt zurück.
Tilly schluckt. »Randy Vanderholt war nicht der Schlimmste.«
»Was? Was meinst du damit?«
»Da war noch ein anderer.«
»Ein anderer Mann? Mit im Haus, meinst du?«
Tilly nickt ganz langsam, nur einmal.
»Bei Vanderholt? Oder davor?«
»Bei Vanderholt.«
»Noch einer, der dir was angetan hat? Noch ein Entführer?« Reeves Stimme droht zu kippen.
»Ja, aber nicht sofort, nicht bei der Entführung. Er kam später, als ich schon im Kerker war.«
»Zwei Männer? Mein Gott, Tilly, hast du jemandem davon erzählt?«
Sie sieht weg, schüttelt den Kopf.
»Aber warum denn nicht?« Reeve kann kaum fassen, was sie da hört.
»Weil er irgendwo lauert. Und mich beobachtet.«
»Aber, Tilly.« Sie packt das Mädchen an den Schultern. »Du musst es jemandem sagen. Du bist doch jetzt zu Hause und in Sicherheit, und es ist wichtig, dass du es den anderen sagst.«
Tilly schüttelt sie ab. »Nein! Ich kann nicht.«
»Tilly, du musst. Die Polizei beschützt dich.«
»Nein! Er hat gesagt, dass er uns was tut, wenn ich was sage.«
»Aber …«
»Du verstehst das nicht. Er ist ein Cop!«, bricht es aus Tilly heraus.
Reeve macht den Mund auf, aber es kommt nichts.
»Du hast versprochen, nichts zu verraten!« Tillys Stimme klingt heiser. »Du darfst das nicht tun.«
»Dann sag es wenigstens deinen Eltern.« Reeve schüttelt ungläubig den Kopf.
»Nein! Das wäre das Schlimmste. Dann gehen sie zur Polizei!«
»Aber wieso denkst du denn, dass er ein Cop ist?«
»Das hat Randy gesagt.«
»Was für ein Cop denn? Streifenpolizei? Highway Patrol?«
»Weiß ich nicht.«
»Hast du eine Uniform gesehen?«
»Nein.«
»Ein Abzeichen?«
»Nein.«
»Na ja, es gibt viele Arten von Cops. Und vielleicht hat er gelogen.«
»Randy hat gesagt, dass er ein böser Cop ist und ich tun muss, was er will, damit er uns das Leben nicht noch schwerer macht.«
»Aber Tilly, wenn du es deinen Eltern sagst …«
»Sag mal, kapierst du’s nicht? Er beobachtet uns ganz genau! Er hat mir gedroht, dass er mich und meine Familie umbringt, wenn ich ihn jemals verrate.«
Die entsetzliche Logik trifft Reeve wie eine
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