Und Nachts die Angst
sich los. »Vielleicht, aber ich kann nichts tun. Sie sind bestimmt schon tot.«
Reeve beißt sich auf die Lippe und betrachtet sie eine lange Weile schweigend.
Tilly seufzt verzweifelt. »Randy hat gesagt: ›Wenn ich nicht mehr da bin, um dich zu beschützen, dann bringt er dich um.‹ Das hat er immer gesagt.« Ihre Augen glänzen nass, ihre Stimme zittert. »Und er hat gesagt, wenn ich jemals wegrennen würde und …«
»Du bist nicht weggerannt. Man hat dich gefunden und befreit.«
»Das macht doch nichts! Begreif es doch endlich! Er lauert irgendwo da draußen und beobachtet mich.« Sie dreht Reeve den Rücken zu und senkt den Kopf. »Wer, glaubst du wohl, hat Randy erschossen? Das war wie eine Warnung. Und ich bin die Nächste.«
Reeve streckt den Arm aus, aber ihre Finger streifen nur den Schlafanzug, als das Mädchen auf dem Bett zusammensackt und sich mit dem Gesicht zur Wand wieder ganz klein macht.
34. Kapitel
D ie Winterkälte fährt in Reeves Jacke und unter ihren Pulli. Sie schaudert und schlingt die Arme um sich, nachdem sie den Jeep mit der Fernbedienung abgeschlossen hat und auf den Pfad zuhastet. Sie hat sich bei den Cavanaughs entschuldigt, dass sie frische Luft braucht. Sie ist Dr. Lerner ausgewichen, hat sich in den Wagen gesetzt und ist geflohen. Sie sehnt sich nach Stille, nach Einsamkeit, damit sie versuchen kann, mit Tillys schrecklichen Enthüllungen fertig zu werden.
Sie entfernt sich von der Straße, joggt über eine Fußgängerbrücke und stößt auf einen Weg, der flußaufwärts am Ufer entlangführt.
Wie hat sie nur so blöd, so unfassbar egozentrisch sein können? Während sie selbstmitleidig ihre Mutter vermisst und Tilly um ihre intakte Familie beneidet hat, musste das arme Ding mit einer doppelten Dosis Entsetzen fertig werden. Zwei Peiniger!
Ein einsamer Läufer kommt ihr entgegen, ohne Augenkontakt herzustellen, und Reeve rennt weiter und nimmt Tillys Geheimnis mit sich. Der Pfad folgt dem rauschenden grünen Fluss, der sich durch die winterliche Landschaft zieht. Dicke, finstere Wolken türmen sich über ihr auf, und die knorrigen Äste riesiger Eichen ragen wie Klauen in den Himmel. Sie drosselt das Tempo, um zu Atem zu kommen. Eine einzelne Ente fliegt gemächlich über die Wasseroberfläche. Die Luft riecht nach modernden Blättern und Holzfeuer.
Sie schaudert und nimmt wieder an Tempo auf. Die Kiefern rücken näher zusammen und wiegen sich über ihr. Der Weg biegt nach rechts ab und entfernt sich von den Stromschnellen, steigt an, fällt wieder ab und führt sie an einen angeschwollenen Bach. Sie zögert am Ufer, blickt über die mögliche Route, setzt den Fuß auf den ersten Stein, balanciert mit rudernden Armen von einem zum anderen und tritt unweigerlich auf der anderen Seite in den Schlamm.
Der Weg verengt sich, steigt plötzlich an und windet sich in engen Serpentinen aufwärts, und ihr wird endlich warm.
Tilly. Abby. Hannah. Die Namen der Mädchen hallen in ihrem Kopf wider. Bilder von Betonwänden und Handschellen drängen sich auf. Sie hat versprochen, Dr. Lerner nichts zu sagen, und kann sich auch Nick Hudson nicht anvertrauen, aber was, wenn all das, was Tilly befürchtet, eintrifft?
Sie läuft weiter flussaufwärts, weiter und weiter, und spürt den Atem in ihrem Nacken. Sie weiß, was kommt, und flieht davor immer tiefer hinein ins rauhe Terrain.
Und dann ist der Fluss verschwunden, und desorientiert dreht und wendet sie sich herum. Sie verlässt den Pfad, und sofort schließt sich dichtes Blattwerk um sie. Schwer atmend bleibt sie stehen, blickt sich um, sucht nach einem Weg durchs Unterholz. Sie geht in die Hocke, sinkt auf die Knie und kriecht auf allen vieren durch Beerensträucher, und die Zweige zerkratzen ihr das Gesicht und verfangen sich in ihrem Haar.
Sie kommt wieder auf die Füße und richtet sich vor einer Felswand auf. Unschlüssig blickt sie hinauf und erwägt umzukehren, doch ein Hauch dessen, was sich drohend nähert, weht sie an, und sie erbebt, presst sich an die Felswand und beginnt den Aufstieg. Ein Fingernagel bricht ab, die scharfen Kanten schneiden in ihre Handflächen, die Stiefel verkanten sich schmerzhaft in den Trittkerben. Sie zwängt ihre Finger in Felsspalten, rammt die Füße in enge Kerben, tastet im flechtenzernarbten Stein nach Halt und hangelt sich Stück für Stück höher, bis sie sich über die Kante hinaufzieht und schwer atmend auf die Füße kommt.
Schwankend richtet sie sich auf dem schmalen Grat auf,
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