Und Nachts die Angst
Reeve drückt sie auf einen der Polsterstühle. Die junge Frau ist blass, und ihr Gesicht ist verweint. »Ich hab’s gerade erfahren.« Sie schüttelt den Kopf. »Ich kann es einfach nicht glauben.«
»Mein Gott. Was ist denn passiert?«
»Sie muss gestürzt sein. Und sich den Kopf aufgeschlagen haben.«
»Sie ist …?« Reeve fühlt sich wie betäubt.
»Wieso musste sie auch unbedingt zu diesem Haus fahren?«, redet Nicole mit bebender Stimme weiter. »Ich war dran. Ich hätte mich um den Besichtigungstermin kümmern müssen.«
Reeve sieht sich um, entdeckt eine Schachtel Taschentücher, reicht sie Nicole und lässt sich schwer auf einen Stuhl sinken. »Es … es tut mir so leid.«
»Das Büro des Leichenbeschauers hat gerade angerufen. Stellen Sie sich das mal vor. Sie wollten ihre nächsten Verwandten informieren, aber sie hat keine mehr. Ihr Vater ist tot.« Nicole wischt sich die Augen und putzt sich die Nase.
»Wie … ich meine, wie hat man …«
»Ein Nachbar hat sie wohl gefunden. Der Nachbar, der die Fische füttern sollte. Im Auftrag der Besitzer.«
»Fische?«
»Ja. Man hat sie im Koi-Teich gefunden.« Schaudernd zupft Nicole noch ein Taschentuch aus der Schachtel. »Sie hat das verdammte Haus geliebt.« Tieftraurig blickt sie zu Reeve auf. »Ich glaube, sie hätte es am liebsten selbst gekauft.«
Schweigend sitzen die beiden eine lange Weile da. Irgendwann steht Reeve auf und sieht sich um. Sie entdeckt einen Kaffeebecher, füllt ihn mit Leitungswasser und reicht ihn Nicole. »Trinken Sie einen Schluck.«
Nicole nippt am Becher und stellt ihn dann wieder ab.
»Es tut mir so furchtbar leid«, sagt Reeve schließlich und wendet sich zum Gehen. »Ich wünschte, ich könnte irgendwas tun.« Sie hat das Bedürfnis, etwas Substanzielles zu sagen, aber die Worte kommen ihr so unbedeutend wie Staub vor. Und sie weiß praktisch nichts über Emily Ewing. »Ich hatte sie gerade erst kennengelernt, aber sie kam mir so nett vor. So energiegeladen. Und so hilfsbereit.«
Nicole blickt auf und schüttelt kurz den Kopf. »Oh, warten Sie. Sie sind Reeve LeClaire, nicht wahr? Das hätte ich fast vergessen. Emily hat einen Umschlag für Sie dagelassen. Er liegt auf ihrem Tisch.«
Reeve ist sich des verschlossenen Umschlags auf dem Sitz neben sich extrem bewusst. Der Verkehr fließt in Richtung Innenstadt und scheint sie direkt zu Starbucks zu bringen, wo sie haltgemacht hat, als sie vor etwas über einer Woche in Jefferson ankam.
Sie fährt auf den Parkplatz und schaut sich den Umschlag an. In leuchtend blauer Tinte steht darauf: »Für Reeve LeClaire, zur Abholung.«
Das war sicher eines der letzten Dinge, die Emily Ewing geschrieben hat.
Sie nimmt den Umschlag und öffnet ihn. Darin befinden sich sechs Seiten kleingedruckter Text mit einer rosafarbenen Klebenotiz.
Hi, Reeve,
auf Ihre Bitte hin habe ich ein bisschen recherchiert. Das ist eine Liste aller Häuser mit Keller, die in den letzten drei Jahren verkauft wurden.
Schön, Sie kennengelernt zu haben, und wenn jemand mal einen Makler braucht, denken Sie bitte an mich.
Reeve zieht den Zettel ab und seufzt. Ist das Leben eigentlich immer so? Die Netten sterben plötzlich, die Bösen können bleiben?
Sie blickt auf die Blätter und sieht einen Eintrag fast ganz oben, der mit gelbem Marker hervorgehoben ist. Das Redrock House.
Ein kalter Schauder läuft ihr über den Rücken, und plötzlich hat sie das starke Gefühl, dass Emily Ewing ermordet worden ist.
Sie denkt einen Moment darüber nach.
Nein. Das ist doch Unsinn.
Sie steckt die Seiten wieder in den Umschlag und will gerade aussteigen, als ihr Blick an dem rosa Zettel hängenbleibt, der am Sitz klebt. Sie zieht ihn ab und betrachtet Emily Ewings schwungvoll geschriebene Nachricht, die gegen Ende vor ihren Augen verschwimmt: denken Sie bitte an mich.
Mit einem traurigen Seufzen fischt sie ihr Handy aus der Tasche und gibt Nick Hudsons Nummer ein. Er geht nicht ran, und als die Mailbox sich einschaltet, fallen ihr keine Worte ein, die nicht völlig verrückt klingen, und sie legt auf und steigt aus dem Jeep.
Im Laden bestellt sie eine heiße Schokolade. Der Barista blinzelt, reagiert aber nicht, und sie wiederholt ihre Bestellung.
Während sie auf das Getränk wartet, hat sie plötzlich den Eindruck, dass immer mehr Gäste verstohlen in ihre Richtung blicken. Sie ermahnt sich zur Vernunft, nimmt ihren Becher mit an einen freien Platz, setzt sich und holt die Ausdrucke mit den Häusern
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