Und Nachts die Angst
aus dem Umschlag.
Auf der dritten Seite findet sie das Haus an der Tevis Ranch Road, wo Tilly Cavanaugh gefangen gehalten wurde, ebenfalls mit leuchtendem Gelb markiert. Sie nippt an der Schokolade und stellt sich Emily Ewing vor, wie sie die entsprechenden Stellen anstreicht. Auf der Suche nach einer Ordnung oder einem Muster überfliegt sie die Liste und erkennt, dass die Reihenfolge chronologisch ist. In Bezug auf das Verkaufsdatum? So scheint es. Davon abgesehen springt ihr nichts ins Auge.
Als ihr einfällt, dass der Stadtplan im Auto liegt, erhebt sie sich, sieht auf und erwischt das Pärchen am Nebentisch dabei, wie es sie unverhohlen anstarrt.
Hastig blicken die beiden weg. Aber jetzt bemerkt sie die Zeitung, die vor ihnen ausgebreitet auf dem Tisch liegt. Ein großes Farbfoto prangt auf der Seite. Ein Foto von ihr und Dr. Lerner.
48. Kapitel
Montag
O tis Poe wartet in seinem Auto vor dem Tor der Cavanaughs und hofft auf ein Interview mit Reggie LeClaire. Oder Reeve, wie sie sich jetzt nennt.
Er findet, dass dieser Nebenschauplatz der Story ihm gehört – schließlich wurde diese neue Entwicklung in seinem Blog losgetreten –, aber dummerweise sind an diesem kalten Montagmorgen schon drei andere Reporter mit ihm hier. Er hat alle drei ankommen sehen, und alle drei haben die Hand zum Gruß gehoben, sind aber in der Wärme ihrer jeweiligen Autos geblieben.
Jedes Mal, wenn sich ein Wagen nähert, versteifen sich alle erwartungsvoll, sacken aber wieder zusammen, sobald er vorbeifährt.
Poe hat seine Hausaufgaben gemacht und eine Liste von Fragen vorbereitet. Er bezweifelt, dass er auf mehr als eine Handvoll davon eine Antwort bekommt. Er ist mental darauf vorbreitet, wie meistens das gefürchtete »Kein Kommentar« zu hören. Dennoch hofft er, eine Reaktion zu provozieren, um dem Eintopf, der im Augenblick auf allzu kleiner Flamme köchelt, ein wenig Frischfleisch hinzuzufügen.
Er hat in diese Story zahllose Stunden investiert, Abende, Wochenenden, so viel von seiner Zeit, dass seine Freundin bereits droht, ihn zu verlassen. Seit das erste Mädchen entführt worden ist, hat er jedes Indiz, jeden noch so kleinen Aspekt des Falls beleuchtet und aus jedem möglichen Blickwinkel betrachtet. Er hat alle Freunde, Bekannte und Familienmitglieder der Opfer interviewt. Er hat Unmengen an Fotos gemacht, unter anderem von Dr. Ezra Lerner, einem renommierten Psychiater, der von der Staatsanwältin Jackie Burke als Sachverständiger hinzugezogen worden ist. Und von der jungen Frau an Dr. Lerners Seite, von der er nun weiß, dass sie Reeve heißt.
Poe hatte seine ganze Hoffnung darauf gesetzt, dass Randy Vanderholt wegen verschiedener Verbrechen festgenagelt werden würde – drei Entführungen, vielleicht sogar Mord –, aber da der Mann nun tot ist und es keine Gerichtsverhandlung geben wird, ist seine Story so trocken wie ein Toast von gestern.
Edgy Reggie alias Reeve LeClaire ist der einzige neue Ansatzpunkt, den er hat.
Er betrachtet das Bild, das mit seinem Artikel gedruckt wurde: Sie hat ein jugendliches Gesicht, das auf rätselhafte Weise attraktiv ist, doch ihre Augen blicken zornig. Sie ist um einiges kleiner als Dr. Lerner, der auch kein Riese ist. Otis findet, dass sie sich wie eine Tänzerin bewegt, und ihre Haltung, ihre Anmut ist so ausgeprägt, dass man es sogar auf dem Foto erkennen kann.
Er hört den weißen Jeep, bevor er ihn sieht, und eine Sekunde nachdem er Reeve am Steuer erkannt hat, ist er schon aus seinem Wagen gesprungen.
Auch die anderen Reporter und Kameraleute richten sich auf und steigen aus, als Reeves Jeep am Tor hält. Sie lässt das Fenster herab, um sich über die Gegensprechanlage bei den Cavanaughs anzumelden, ignoriert jedoch die Nachrichtenleute, die sie mit Fragen bombardieren.
»Reggie, warum haben Sie Ihren Namen geändert?«
»Können Sie uns etwas über Tilly Cavanaugh sagen?«
»Sind Sie froh über den Tod des Entführers?«
Poe nutzt eine erwartungsvolle Pause, die auf die Fragen der Reporter folgt, hält seine Visitenkarte hoch und sagt: »Otis Poe vom Jefferson Express. Können Sie mir sagen …«
Ihr Blick flackert in seine Richtung, aber sie übersieht seine Karte geflissentlich.
»… was Tilly Cavanaugh über die anderen vermissten Mädchen weiß?«
»Sie legt viel Wert darauf, nicht behelligt zu werden«, sagt sie mit einem zornigen Blick. »Genau wie ich. Also lassen Sie mich durch, Poe. Ich verschwinde.«
Ihr Fenster fährt hoch, das Tor öffnet
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