Und nehmen was kommt
weist. Phantasien von bunten Shoppingtouren, von glitzernden Discobesuchen, von sonnendurchfluteten Reisen ans blaue Meer geistern durch ihren Kopf, sie hat Angst, etwas zu versäumen, was den Alterskolleginnen außerhalb des Kinderheims, so hat es den Anschein, selbstverständlich offensteht. Ganz kribbelig ist sie, Schule und Ausbildung sind ihr zunehmend lästig, sie hat nicht das Gefühl, auf ein selbständiges Erwachsenenleben jenseits von Haushaltshilfe oder Putzfrau vorbereitet zu werden. Sie will aber unter keinen Umständen Haushaltshilfe oder Putzfrau werden oder gar einen Mann heiraten und bei ihm Haushaltshilfe, Putzfrau, schrecklicher noch, Geliebte sein, sie möchte so gern auf eigenen Füßen stehen, aber sie weiß nicht wie.
Wenn Monika unterwegs ist, denn sie haut ab sofort immer wieder ab, für eine Woche oder drei, wird sie mit der Nase darauf gestoßen, daß es das, wovon sie träumt, vielleicht geben mag, ihr jedenfalls bleibt es verschlossen. Den ganzen langen Tag durch die Städte ziehen, Zigaretten schnorren, Eßbares klauen, einen Platz zum Schlafen finden, der halbwegs geschützt ist, Männer abwehren, die sich bei einem halben Kind wie ihr gute Chancen ausrechnen, ein solches Leben auf der Straße ist ebenso ermüdend wie trostlos, vor allem aber angstbesetzt. Es gilt, den schmalen Grat zu wandeln, sich zwar auf ein Getränk einladen zu lassen, auf einen Hamburger oder Spaghetti, dann aber rechtzeitig eine Fliege zu machen. Da klingt die Aussicht auf eine warme Dusche und ein echtes Bett noch so verlockend, Einladungen zum Übernachten lehnt Monika, sofern sie von Männern ausgesprochen werden, rundweg ab. Und von Frauen werden sie selten ausgesprochen. Eine Disco hat sie noch nie von innen gesehen, im Herna-Glücksspiellokal an der Ecke bestenfalls einsam zehn Kronen im Automaten versenkt und natürlich nichts gewonnen.
Für die staatliche Fürsorge ist Monika, von schwersten Depressionen geplagt, zur schwererziehbaren Jugendlichen geworden. Sie sitzt scheinbar gelangweilt im Klassenraum, schaut zum Fenster hinaus, kritzelt lustlos Strichmännchen, bemüht sich gar nicht, so zu tun, als würde sie dem folgen, was vorgetragen wird. Selbst dem Kochunterricht, ihrem Lieblingsgegenstand, kann sie nichts mehr abgewinnen. Provokantes Verhalten würde sie an den Tag legen, zu eruptiver Gewalttätigkeit neigen, dann wieder, von einer Minute auf die andere, völlig verstockt sein. Besonders hervorzuheben sei, daß der Zögling das Heimgelände wiederholt ohne Erlaubnis für längere Zeit verlassen habe. Die lange Liste grober Verfehlungen reicht locker für die Einweisung in eine geschlossene Anstalt.
Damit hat Monika nicht gerechnet. Sie schämt sich zwar, Jaroslav die Trennung angetan, nur an sich selbst gedacht zu haben. Sie weint zwar um Darina, die Vertraute, die sie ohne viel Reden verstanden hat, warm war und weich. Und doch ist da, viel tiefer noch als der Abschiedsschmerz, eine wundersame Gleichgültigkeit in ihr. Es hat eine Zeit gegeben, da wollte sie unbedingt sterben oder Advokatin werden, Fußballerin, Ballettänzerin oder Rapperin, jetzt will sie nichts mehr werden, jetzt will sie nichts mehr, nicht einmal sterben, außer es ergibt sich von selbst.
Das neue Heim ist im Prinzip wie das alte, nur verschärft. Aus einiger Entfernung wirkt es, nähert man sich von unten dem Hügel, auf dem es trotzig thront, wie achtlos ohne System aneinandergefügte Bauklötze, in weiten zeitlichen Abständen hochgezogene kleinere und größere Anbauten an den ursprünglichen Komplex sind es, einer tiefer gelegen als der andere. Ganz oben aber, wo sich die älteste Substanz findet, umrahmen zwei zwiebelbehelmte Türmchen den ausladenden Eingangsbereich. Wer hier eintritt, fühlt sich winzig. Vor den Fenstern schwere Eisengitter, von einem hohen Zaun umgebene Freizeitanlagen, ein Gefängnis dürfte nicht viel grimmiger aussehen, denkt Monika bei ihrer Ankunft. Kasernenhofton, eiserne Disziplin. Statt echtem erhalten die Mädchen – an diesem Ort gibt es nämlich ausschließlich weibliche Insassen – bei Wohlverhalten Anstaltsgeld zur Belohnung, das beim Heimbuffett gegen Getränke, Snacks und andere Kleinigkeiten eingelöst werden kann. Monika tröstet sich damit, daß sich in gut einem Jahr für sie die Tore öffnen werden, dann ist sie achtzehn, erwachsen, und sie wird gehen können, wohin sie will, wenn sie das nur wüßte.
Einige der Mädchen hier haben Unvorstellbares hinter sich. Die
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