Und nehmen was kommt
Elfjährige in ihrem Zimmer zum Beispiel, mit der sie gleich am zweiten Tag ins Gespräch kommt, ist von ihrem eigenen Vater mit zehn an einen Zuhälter verkauft und von der Polizei auf der Straße bei der Anbahnung einschlägiger Geschäftstätigkeit aufgegriffen worden. Es ist zum ersten Mal, daß Monika von derlei hört, denn die betroffenen Kinder schweigen zumeist. Sie kann zwar Tischdecken häkeln, aus einfachsten Zutaten leckere Speisen zubereiten, die Hauptstädte Europas, der Gefrierpunkt des Wassers sowie die äußerst seltsame Formel a ² + b ² = c ² wären zumindest im Lehrangebot zu finden gewesen, auch wenn Monika davon keinen Gebrauch gemacht hat. Kein Mensch aber in beiden Erziehungsanstalten findet es je der Mühe wert, die Mädchen vor dem scheinbar schnellen Geld auf dem Straßenstrich, in den Clubs und anderen einschlägigen Etablissements zu warnen, ihnen brauchbares Rüstzeug mitzugeben, der Außenwelt auf Augenhöhe begegnen zu können und nicht in die erstbesten Fallen zu tappen. Monika hat keine Ahnung, was ein Kondom ist und was man sich unter Aids vorstellen soll, Ämter und Behörden sind ihr mit Ausnahme von Polizei und Fürsorge spanische Dörfer, wie man Bankgeschäfte abwickelt oder eine Arztpraxis aufsucht, wozu Kranken- oder Pensionsversicherung dienen, was es mit dem Wahlrecht auf sich hat, von dem sie in einem Jahr Gebrauch machen darf, keinen blassen Schimmer hat sie davon. Niemand lehrt sie, selbstbewußt einen Standpunkt zu vertreten, verantwortlich mit Geld umzugehen, wie man sich um einen Job bewirbt.
Natürlich könnte sie sich an die Erzieherinnen wenden, unter Umständen bekäme sie auf konkrete Anfragen sogar zweckdienliche Antworten, wie das denn weitergehen könnte mit ihr später, bald schon. Nützliche Tips vielleicht, Adressen von Übergangsheimen, Sozialeinrichtungen, Arbeitsämtern, Fraueninitiativen. Vielleicht hätte Monika sich überwunden und zum Schluß doch noch nachgefragt, obwohl sie sich das Fragen längst weitgehend abgewöhnt hat, aber da trifft ein paar Monate vor ihrem achtzehnten Geburtstag überraschend ein freundlicher Brief ein.
Absenderin ist eine der Töchter des Gelähmten, in dessen Haus sie vor vielen Jahren einige Monate mit Mutter und Geschwistern gelebt hat. Monika hat sie nur flüchtig kennengelernt und erinnert sich nur noch schwach, sie muß damals schon an die zwanzig gewesen sein und aus dem Haus, umso größer ist die Freude, daß Kristyna sie nicht vergessen hat und sich sogar um sie kümmern will: Mit einiger Mühe habe sie endlich ihre Anschrift herausbekommen, schreibt die junge Frau. Sie könne sich gut vorstellen, daß Monika nicht recht wisse, wo sie leben solle, wo sie doch in Kürze aus dem Heim entlassen werden wird. Bei ihrem Mann, den Kindern und ihr jedenfalls sei sie herzlich willkommen. Ein Jahr später, wenn Jaroslav groß genug dafür sein werde, könne auch er gern bei ihnen einziehen, kein Problem, Platz sei genug vorhanden. Monika wird die Einladung mangels Alternativen dankbar annehmen, sie ist erleichtert, obwohl ihr nach der ersten Euphorie schnell bewußt wird, daß sie mit der Verwandtschaft des Gelähmten einzig und allein Enttäuschendes, Geheimnisvolles, Angstmachendes verbindet.
Die letzten Nächte im Heim schläft sie hundsmiserabel. Im Traum steht sie in der kühlen Abenddämmerung allein im dichten Wald, und zwar vor geschlossenen Bahnschranken samt einer Signalanlage, an der auch ein Warnschild befestigt ist: Pozor , Achtung! Darüber geistern zwei orange-gelbe Lichtpunkte wie Leuchtkäfer hin und her. Weit und breit keine Geleise, geschweige denn ein Zug. Absolute Stille. Monika schaut links und rechts, sie weiß, sie muß weiter, doch traut sie sich nicht. Gerade war sie noch sicher, entlang einer schmalen, vielfach ausgebesserten Asphaltstraße gewandert zu sein, jetzt ist nicht einmal mehr ein Pfad hinter ihr auszumachen, und drüben, hinter den Schranken, schaut es nicht besser aus. Ihr wird heiß und kalt, sie weiß, sie wird um eine gewisse Zeit erwartet, darf nicht zu spät kommen, sonst kann sie nicht mehr hinein. Da gehen völlig unnütz die Schranken auf, statt der beiden unruhigen gelben leuchtet nun ein starres weißliches Signallämpchen. Monika erwacht schweißgebadet und blickt in den Vollmond hinter dem Fenstergitter.
Als es schließlich soweit ist, packt sie ihre Habseligkeiten in den großen alten Koffer, Kleidung, Schuhe, Stofftiere, Billigschmuck, den Walkman, Musikkassetten,
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