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Und nehmen was kommt

Und nehmen was kommt

Titel: Und nehmen was kommt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ludwig Laher
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bevormundet, sieht nur noch die routinierte Gleichgültigkeit des Erziehungspersonals, die seelischen Verletzungen, die ihr zugefügt werden. Sie beschließt, sich nicht länger zu fügen. Dabei will sie von vornherein gar nicht ausschließen, daß sie, Jaroslav zuliebe, irgendwann ins Heim zurückkehren wird, wenn sie sich richtig ausgelebt hat.
    Und so machen sich die beiden Mädchen davon. Sie haben wenig Geld in der Tasche, ihr erstes, ihr einziges wirkliches Ziel ist der Friedhof jener westböhmischen Industriestadt, in der Monikas Mutter umkam. Die Fahrkarten sind erstaunlich billig, und als sie, kaum sind sie in den Bus eingestiegen, auch schon wieder aussteigen müssen, weil sie angelangt sind, wo sie hinwollten, dämmert Monika zum ersten Mal, wie nahe das Kinderheim bei der fernen Mutter gelegen ist, der lebenden zuerst, dann der toten. Irritiert erinnert sie sich an das Bündel Briefe im Heimschrank. Diese kaum vierzig Minuten Fahrzeit haben die Mutter doch nicht ernsthaft davon abhalten können, ihre Kinder bald einmal zu besuchen. Hat man es ihr verboten gehabt? Der Staat? Die Verwandten des Gelähmten? Sie sich selbst?
    Daß es so etwas wie eine Friedhofsverwaltung geben könnte, in deren Büro sich die Lage bestimmter Gräber herausfinden ließe, auf solch einen Gedanken kommen die beiden Mädchen erst gar nicht. Sie irren, Colaflaschen in der Hand, ziellos zwischen den Reihen oft wenig gepflegter Einfriedungen umher, untersuchen auch ältere Grabstätten, die von vornherein ausscheiden würden, mit kindlicher Akribie, weil sie vom Vergehen der Zeit keinen klaren Begriff haben. Sie teilen sich die Arbeit nicht auf, sondern lesen angestrengt gemeinsam verwitterte Namen. Vielleicht ist sie verbrannt worden, meint schließlich Darina, und ihre Asche einfach im Wald verstreut, weil es keine Angehörigen gab, die ein Grab bezahlten.
    Je länger sie vergeblich suchen, desto wahrscheinlicher erscheint ihnen diese Vermutung. Und nachdem sie ungefähr die Hälfte des Friedhofs inspiziert haben, sind sie sich sicher, so muß es gewesen sein. Monika ertappt sich dabei, nie wirklich daran geglaubt zu haben, Mutters Grab tatsächlich zu finden. Sie wollte es, sie wollte es nicht. Es ist ein Sehnsuchtsort, dessen wirkliche Entsprechung alle Bilder zerstört hätte, die sie sich in den letzten Jahren davon gemacht hat. Mehr erleichtert als enttäuscht ziehen die Mädchen in Richtung Innenstadt ab.
    Welcher Art die Abenteuer sein könnten, die sie sich von ihrer Flucht in die Welt erwartet haben, davon haben die beiden Halbwüchsigen keine Vorstellungen. Viel hat sich verändert hier, stellt Monika beiläufig fest, sie streifen, erst neugierig, dann mehr und mehr gelangweilt durch Kaufhäuser, sprühen sich gegenseitig Parfümproben auf die Handrücken, klauen, weil sie langsam hungrig sind, von einem Obststand Äpfel, sitzen hundemüde auf einer Parkbank. Mit der großen Zehe des rechten Fußes schreibt Monika ein großes M in den Sand vor ihr und wischt es mit dem Ballen wieder weg.
    Noch könnten sie einen Bus zurück ins Heim nehmen und in ihren Betten schlafen. Aber das wäre eine Niederlage, gestraft würden sie soundso, ob sie jetzt zwölf Stunden weg blieben oder zwölf Monate. Morgen fahren wir zu meinen Verwandten, verkündet Darina, da können wir eine Zeitlang Unterschlupf finden. Wir sagen ihnen einfach, wir haben Urlaub bekommen, weil wir uns immer so vorbildlich benommen haben. Neben der Friedhofsmauer, erinnern sie sich, gibt es einen verwilderten, verbuschten Streifen Landes, sie beschließen, dort irgendwo im Freien zu übernachten. Die ausgewachsenen, mehr als einen halben Meter hohen Gräser sind, läßt man sich hineinfallen, sogar ein halbwegs weicher Untergrund, wenn man es sich lange genug einredet. Monika hockt sich ein wenig abseits und entleert ihre übervolle Blase. Sie schaut dem Strahl zu, da fällt ihr ein, daß sie weder Klopapier noch Taschentücher dabei hat. Sie wackelt eine halbe Ewigkeit mit dem Hintern, aber als sie aufsteht, spürt sie doch einen oder zwei Tropfen die Innenseite des Oberschenkels langsam hinunterrinnen. Sie wischt angewidert mit dem Handrücken darüber, wischt die Hand ins Gras. Sie würde gerne duschen. Sie würde gerne wo sein, wo sie gerne sein würde.
    Wenn Monika im Heim ist, denn sie ist bald darauf wieder im Heim, wächst diese Sehnsucht nach draußen schnell ins Unermeßliche, diese Gier nach Freiheit und Spaß, nach irgendetwas, irgendwem, der einen Weg

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