Und nehmen was kommt
Sachen? stieß sie hervor, rückt sofort meine Sachen heraus! Seelenruhig trat Emil aus der Küche und fragte scheinheilig: Welche Sachen?
Monika will sich vor den Zug werfen, aber das kostet Kraft, die sie erst ansparen muß. Länger als eine Stunde schon sitzt sie, ohne die Augen auch nur einmal zu öffnen, neben dem alten Bahnhofsgebäude. Der Tag ist noch lang, das Wetter passabel, sie hat keine Eile, spürt sie, denn zum Denken fehlt ihr jede Energie. Sie hat keinen Hunger, keinen Durst, der schale Geschmack im Mund ist ihr einerlei. Es hat sie zur einzigen, weil unter einem großen Baum aufgestellten, mit Vogelkot übersäten Bank auf dem wenig benutzten Hausbahnsteig gezogen, aus dessen brüchigem Asphalt hohes Sommergras sprießt. Hier wähnt sie sich vor neugierigen Reisenden sicher, und ihre von den weißen Ausscheidungen auf Lehne und Sitzfläche komplett verdreckte Kleidung wird sie, so Monikas unbewußtes Kalkül, vor einem Rückfall ins Leben bewahren, denn dieser Bahnhof soll die Endstation werden.
Irgendwann steckt sie die kalten Hände in ihre Hosentaschen und stößt so auf den zerknüllten Zettel mit Zuzanas Adresse und Handynummer, den sie vor der Abreise für den Fall des Falles eingeschoben hat. Sie hat nicht mehr daran gedacht und will eigentlich auch jetzt nicht daran denken, sie ärgert sich und zieht die Hände aus den Taschen, aber es läßt sich nicht ungeschehen machen. Für einen Moment beschließt sie, dem nächsten schweren Güterzug in die Quere kommen zu wollen, um die Verführung abzuwehren, die von dem blöden Stück Papier ausgeht. Dann macht ihr eine neue Überlegung den Kopf klarer und das Herz leichter, das trotzdem bis zum Hals klopft, als Monika sich zur Telefonzelle auf dem Bahnhofsvorplatz aufmacht: Warum immer ich, soll doch das Schicksal entscheiden und die Verantwortung übernehmen. Ich werde Zuzana anrufen, und wenn die Nummer nicht mehr stimmt, selbst wenn sie bloß abgeschaltet hat oder fort ist, mache ich auf der Stelle Schluß. Sie ist mit einem Mal hellwach, direkt überdreht, verwählt sich, fängt noch einmal an und zählt mit: Es läutet einmal, zweimal, dreimal, prosim , meldet sich Zuzanas Stimme. Monika bricht in Tränen aus.
Wenn die älteren Mädchen das Heim für Schwererziehbare verließen, wurde gewöhnlich viel geweint. Lange Umarmungen waren die Regel, die Wünsche reichten vom Märchenprinzen bis zur Modelkarriere, realistisch waren sie nicht. Die meisten versprachen, ihre Adresse in der Freiheit bekanntzugeben, sobald sie eine solche haben würden. Nur selten freilich kam dann wirklich ein Brief oder eine Postkarte, aus den Augen, aus dem Sinn. Zuzana aber meldete sich, Besuche seien willkommen.
Auf dem Damenklo wechselt Monika die Wäsche. Siebenundzwanzig Kronen bleiben ihr in der Geldbörse, nachdem sie die Fahrkarte gekauft hat. Sie trinkt aus der Wasserleitung, um nichts für ein Cola zu vergeuden. Wenn alles klappt, wird sie am frühen Abend bei Zuzana sein. Sie ist weit davon entfernt, sich Großes zu erwarten, gar echte Hilfe, eher sieht sie die Reise als schicksalsbedingten Aufschub ihres Entschlusses, denn Züge gibt es überall.
Das darf doch nicht wahr sein, ereifert sich Zuzana, als Monika ihre Erlebnisse mit Kristyna und Emil schildert, und zündet sich nervös eine Zigarette nach der anderen an. Einen Besen fresse ich, wenn diese komische Geschichte mit dem Gefängnis stimmt. Die stinkt doch meilenweit gegen den Wind. Denen ist es von vornherein einzig und allein darum gegangen, dich auszunehmen wie eine Weihnachtsgans, und du bist ihnen prompt hineingefallen.
Zuzana wohnt, erfährt Monika, gemeinsam mit ihrem Freund und ihren zwei jüngeren Schwestern in einem schäbigen Hinterhaus. Die beiden seien arbeiten, erklärt Zuzana, sie aber habe sich spontan freigenommen. So aufgelöst, wie du am Telefon geklungen hast, armes Kind, da ist das doch selbstverständlich. Sie stellt Teewasser auf, Monika kämpft sich inzwischen durch aufs Klo. Heillose Unordnung herrscht in der gesamten Wohnung, fällt ihr auf, in der Küche stapelt sich seit längerem unabgewaschenes Geschirr, im Vorzimmer lehnen mehrere alte Bilder an der Wand, zwei gut halbmeterhohe Marienstatuen aus Holz, vier Messingleuchter und ein Kinderwagen aus den fünfziger Jahren stehen davor. Die Türen zu den Zimmern sind offen, auch da lagern offenbar Antiquitäten und Altwaren, von der Pendeluhr bis zum Röhrenradio, zwischen den Einrichtungsgegenständen. Es riecht
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