Und nehmen was kommt
ausgedehnter Spaziergang. Ich werde ein bißchen die Gegend erkunden, wenn es euch nichts ausmacht. Anna empfiehlt Monika den Schloßpark, sollte ihr der Aufstieg nicht zu beschwerlich sein. Läuft alles wie geschmiert, freut sie sich, als sie das Haus zwei Stunden vor dem mit Petr vereinbarten Zeitpunkt verläßt. Das Wetter hat sich gebessert, sie durchstreift die Altstadt, sitzt gelangweilt auf einer Parkbank, raucht eine Zigarette nach der anderen und biegt schließlich viel zu früh in die Straße ein, wo sie den weißen Kastenwagen erwartet.
Die Winterova, so der Name der Straße, ist ziemlich kurz und übersichtlich, Monika schlendert auf und ab, zweimal, dreimal, viermal. Sie zählt die Schritte von einem Ende zum anderen, ermittelt die Anzahl der roten Autos, die hier parken, dann die der blauen. Jetzt könnte er langsam kommen, denkt sie. Ihr schießt ein, daß sie vergessen hat, Zuzanas Telefonnummer zu notieren, falls Petr etwas dazwischenkommen sollte. Sie kramt in der Handtasche hektisch nach dem zerknüllten Zettel aus dem Heim, aber der bleibt verschwunden. Was sie darin findet, ist die Spritze, die Tagesration Speed für heute. Es wird der Berufsverkehr sein, Petr wird die Staus unterschätzt haben, beruhigt sie sich für ein paar Minuten, doch irgendwann begräbt sie ihre Hoffnungen. Mit feuchten Augen schleppt sie sich in einen Hausdurchgang, ihr wird speiübel. Sie läßt sich auf die Hintertreppe plumpsen, bringt die Nadel in sich unter, gleich wird die Wirkung einsetzen. Sie möchte in ein Lokal, etwas trinken, aber in der Winterova gibt es kein Lokal, und so irrt sie wieder auf und ab, auf und ab, schaut angestrengt in die Querstraße, als ob es dort etwas zu finden gäbe. Nach zwei Stunden gibt Monika auf, sie sucht sich eine Gastwirtschaft, eine laute, mit Spielautomaten.
Wir haben geglaubt, du kommst gar nicht mehr, sagt Anna, als Monika eintritt. Geht’s dir jetzt wenigstens besser? Ja, es geht. Als sie die Zimmertür hinter sich schließt, hört sie František ärgerlich rufen: Morgen aber wird es endlich ernst! Monika zieht die gebrauchte Wäsche von gestern aus ihrer Handtasche und wirft sie in den leeren Koffer. Dann öffnet sie das Fenster, sechs Stockwerke müßten reichen, denkt sie.
Daß sie es wieder nicht tut, immer nur liebäugelt damit, Monika kann es sich nicht erklären. Ist es die Angst vor dem, was dann kommt? Der Sprung selbst, aus dem Fenster, vor den Zug, bereitet ihr dabei weit weniger Kopfzerbrechen als die möglichen Scherereien nachher. Nein, nicht daß sie bei ihrem Pech querschnittgelähmt wieder aufwachen könnte, mit amputierten Beinen oder mit einem irreparablen Hirnschaden, derlei zieht sie gar nicht in Betracht. Aber daß es ganz aus ist, wenn es aus ist, darauf will sie sich nicht recht verlassen, desto weniger, je mehr sie zu verstehen meint, wie die Welt funktioniert. Sie glaubt nicht an den Himmel, wie er im Buch steht, wie sie ihn Jaroslav blumig beschrieben hat, als die Mutter plötzlich tot war, aber hinter jeder Ecke lauert eine neue Niedertracht, das ist ihre Lebenserfahrung, gut möglich, daß sich ihre Todeserfahrung darin nicht wesentlich unterscheiden würde. Sie glaubt nicht an den Teufel, wie er im Buch steht, aber daß sich ihre große Sehnsucht, überhaupt nicht mehr zu sein, nach dem Tod wirklich erfüllen könnte, soviel Optimismus bringt Monika nicht auf.
Sie ist achtzehn. Ihr gehen sämtliche Grundlagen ab, die es ihr vielleicht gestatten würden, zu den großen Leidgeschichten der Menschheit Zuflucht zu nehmen, sich beispielsweise gemeinsam mit ähnlich beladenen Gleichgesinnten einzuimpfen, die Pilgerfahrt hienieden komme einem vorbestimmten Kreuzweg gleich, der, Wohlverhalten vorausgesetzt, desto zuverlässiger in die Erlösung münde, je mühseliger sich die Wanderung durch das irdische Jammertal gestalte, je grausamer die Prüfungen ausfallen würden, die es zu bestehen gelte. Sie hat keinen Schimmer vom Völkermord an den Roma und Sinti vor gut einem halben Jahrhundert, angesichts dessen sich unter Umständen ihr eigenes Ausgesetztsein, ihre Seelenqualen auch ohne die Instanz Gottes ein wenig relativieren ließen.
Sie ist zwar eine Schwarze, wie ihresgleichen in diesem Land allgemein genannt wird, eine Zigeunerin, eine Romni, aber es gibt weit und breit keine kollektive Empörung der diskriminierten Minderheit, die Identifikation stiften könnte, Zugehörigkeit schaffen würde, das Bewußtsein, mit anderen für eine gerechte
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