Und nehmen was kommt
Hradschin, wo der Präsident sitzt. Irgendwo beim Hauptbahnhof, sagt sie schließlich, um sich keine Blöße zu geben.
Hast du Familie dort in der Nähe? will er wissen. Nein, Freunde, lügt Monika. Gegen Mitternacht überqueren sie zweimal die Moldau. Von der Beifahrerseite aus bietet sich ihr ein prächtiger Blick auf die beleuchtete und verschneite Burg, sie kann ihn nicht genießen. Da drüben ist der Eingang zum Bahnhof, gleich hinter dem Park, kennst du dich aus? fragt der Mann kurz darauf. Sie nickt. Ist es noch weit von hier? Nein, gar nicht, gleich um die Ecke, nur ein paar Schritte. Er drückt ihr noch einen Tausend-Kronen-Schein in die Hand und wünscht ihr alles Gute für den Neuanfang. Monika winkt kurz und geht mit schnellen Schritten zielstrebig in Richtung Masarykbahnhof, biegt in die Hybernská ein und verschwindet in einem schäbigen Nachtcafé.
Mit dem Rotlichtmilieu möchte sie nichts mehr zu tun haben, das ist das einzige, was sie weiß. Wieder hat sie nichts bei sich als die Kleider auf dem Leib und ihre Handtasche. Den Paß hat František in weiser Voraussicht eingezogen. Zwei Obdachlose mit glasigen Augen erklären ihr umständlich, wo sie im Bahnhofsbereich wegen der Kälte mit Duldung der Polizei bis fünf in der Früh schlafen dürfen. Den Rest der ersten Nacht verbringt sie wach zwischen laut schnarchenden, streng riechenden Männerkörpern, Zeitungsblätter untergelegt, die Kapuze ihres Mäntelchens in die Stirn gezogen. Als die Polizisten den Haufen Gestrandeter unsanft wecken, ist Monika gerade eingeschlafen. Draußen ist es noch drei Stunden finster.
Ziellos irrt sie den ganzen Tag in der Riesenstadt umher, unterbrochen nur von Aufwärmviertelstunden vor einer Tasse Tee. Sie wartet auf einen Zufall, statt daß sie sich nach Frauenhäusern erkundigt, dem Arbeitsamt oder ob sie eventuell Anspruch auf Sozialhilfe haben könnte. Aber dazu müßte man wohl wissen, sich zumindest vorstellen können, daß es Frauenhäuser gibt, Arbeitsämter und Sozialhilfe, oder man müßte zumindest die Kraft und das Selbstwertgefühl haben, sich immer wieder auslachen zu lassen, wenn man, noch dazu, ohne gültige Dokumente vorlegen zu können, blöde, tastende Fragen stellt, bis man endlich begreift, wie der Hase läuft, bis man den ersten vernünftigen Schritt setzen kann und dann den nächsten. Man müßte vor allem weniger Angst und mehr Unterstützung haben. Monika müßte weniger Angst und mehr Unterstützung haben.
Weil ihr die Sexarbeit grundsätzlich zuwider ist und weil sie die Gepflogenheiten in den einschlägigen Clubs viel zu wenig kennt, zieht sie auch die Möglichkeit, in einem verhältnismäßig seriösen Laden auf eigene Rechnung und einigermaßen selbstbestimmt anzuschaffen, gar nicht in Erwägung. Einmal immerhin betritt sie unschlüssig die Lobby eines besseren Hotels und fragt den livrierten Portier hinter dem Tresen der Rezeption, ob sie hier einen Job finden könne, als Putzfrau vielleicht. Der Mann mustert sie von oben bis unten, ordnet ihre Aufmachung richtig zu und beschränkt sich auf ein kurzes, abfälliges: Bedaure. Sie probiert es nicht wieder.
Gegen Abend findet sie sich wieder beim Bahnhof ein, sie ist so müde, sie ist so fertig. Sie träumt vom Duschen und von einem Bett, aber für ein Zimmer reicht das Geld nicht. An einer Imbißbude kauft sie sich Cola und Pommes, fragt den Verkäufer, ob er wen kenne, der sie für eine Nacht oder höchstens zwei bei sich schlafen lasse. Um elf habe ich Dienstschluß, sagt er, du kannst mitkommen.
Sie will die Freundlichkeit nicht abarbeiten müssen, jedenfalls nicht im Bett, und der Typ macht auch keinerlei Anstalten in diese Richtung. Sie duscht und legt sich im getragenen Gewand auf die alte Couch. Morgen wird sie den dritten Tag hintereinander dasselbe anziehen müssen, nur einen billigen Slip hat sie aus dem Wäscheberg auf dem Wühltisch eines Kaufhauses gezogen und eingesteckt, ohne daß es auffiel. Sie wringt ihn in lauwarmem Wasser aus und legt ihn zum Trocknen auf die Heizung.
Vor dem Einschlafen, und lange schon ist sie nicht so schnell eingeschlafen, zieht sie eine vorläufige Bilanz ihrer Flucht. Sie fällt kurz aus und eindeutig: Es ist alles sinnlos, lächerlich. Hat sie sich nicht vorgenommen gehabt, nur mit handfesten Zukunftsperspektiven abzuhauen? Aber woher nehmen und nicht stehlen? Hätte sie vielleicht warten sollen, bis sie schwarz wird, was sie von Geburt an leider ohnehin ist? Jemand wie sie, die wirkliche
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