Und nehmen was kommt
ohnehin nichts Verwerfliches daran, im Gegenteil. Auch er war jahrelang Schauspieler. Aber neben ihm geht jetzt ein Mensch aus Fleisch und Blut, mit einer Geschichte, von der er nichts weiß außer Zeichen und Narben auf der Haut, die mit herkömmlichen Tatoos nichts zu tun haben. Über die sie nicht reden will, über die er folglich auch nicht nachdenken sollte, weil es zu nichts führt. Was er weiß und jetzt ein bißchen nachzuempfinden vermag: Täglich Speed muß täglich Ausnahmezustand sein, und täglich Ausnahmezustand ist nicht gesund. Diese schöne Frau an seiner Seite ist nicht gesund. Von den wahren Ausmaßen ihrer psychischen wie physischen Notlage ahnt er freilich nichts.
In der Konditorei löst sich die Stimmung merklich, er fragt, ob sie schon einmal in Wien war, sie schüttelt den Kopf, er erzählt ihr von den alten Kaffeehäusern, ihrer wunderbaren Atmosphäre, den Mehlspeisen mit den tschechischen Namen, von der Palatschinke bis zur Topfengolatsche, die sich auf jeder Speisekarte finden würden. Sie will vor ihm nicht länger Vanessa sein und nennt ihren wirklichen Namen. Ein Tag oder zwei in Wien, das wäre herrlich, schwärmt sie. Wenn du mich einlädst, soll es dich auch nichts kosten. Er ist sich nicht sicher, ob er dieses überraschende Angebot als aufdringlich empfinden soll oder als vorsichtiges Signal einer privaten Zuwendung. Philipp geht vorläufig nicht näher darauf ein, er wird es sich überlegen.
Monika will ihm eine Herna-Bar zeigen, ein paar seiner Zehn-Kronen-Stücke in die Spielautomaten werfen, er ist mit von der Partie, sie hat sichtlich Spaß, er findet die Mischung aus Bierdunst, Schweiß und Tabakqualm entbehrlich, schaut heimlich auf die Uhr und erinnert sich unwillig daran, daß er als Kind alles aufessen mußte, auch wenn er längst satt war. Warum konsumiert er brav alle vierundzwanzig bezahlten Stunden, wenn er eigentlich satt ist? Doch nicht ihr zuliebe?
Komm noch kurz auf einen Drink mit hinein, bettelt Monika, als sie beim Incognito eintreffen. Obwohl es ihn nach Hause zieht, läßt er sich überreden. Und dann trägt sich wahrhaft Unerhörtes zu: Zum Abschied, mitten im Kontaktraum stehen sie, umarmt Monika Philipp fest, schlingt dabei ihr rechtes Bein um die seinen und küßt ihn scheinbar endlos vor den Berufskolleginnen und den staunenden Gästen des Etablissements. Nicht demonstrativ, sie könnte auch keinen Vorsatz bestätigen, es ist einfach so, und doch kommt dieser Akt, der allen Regeln des Sexgewerbes widerspricht, in seiner Ungeheuerlichkeit dem innigen Kuß eines katholischen Priesters am Altar nahe, der sich während der Sonntagsmesse vor den Gläubigen spontan zu seiner bislang heimlichen Geliebten bekennt.
Ein Tabu ist gebrochen, eine unbeabsichtigte Kundgebung hat stattgefunden, ihr erster Adressat ist Monika selbst, und sie teilt sich mit, woran sie schon nicht mehr geglaubt hat: Es gibt mich noch. Ihr zweiter Adressat ist Philipp, und ihm gilt die Botschaft: In einer anderen Welt hätt ich dir begegnen mögen, mit einer anderen Vorgeschichte, unter anderen Vorzeichen, denn ich kann dich leiden. Und allen, die sonst Notiz genommen haben davon, soll gesagt sein: Was ihr euch jetzt denkt, ist mir sowas von gleichgültig wie ein entzündeter Pickel auf dem Arsch des Präsidenten.
Monika ist mindestens so verwundert wie Philipp, als sie ihre Lippen von den seinen löst, die Hände von seinem Nacken, sich ohne ein Abschiedswort umdreht und auf die Toilette huscht, um zu weinen. Da steht er nun, und zahlreiche Blicke, die er nicht nur des Halbdunkels wegen bloß schemenhaft wahrnimmt, sind auf ihn gerichtet. Als er sich halbwegs gefangen hat, nach einer Sekunde vielleicht oder nach dreißig, macht er sich, so schnell es eben möglich ist, aus dem Staub. Er hat ihre Handynummer, sie seine, aber er hat ihr nicht versprochen, sie anzurufen.
Auf ihre erste SMS -Botschaft reagiert er gar nicht, nach der zweiten läßt er einen weiteren Tag vergehen, denn sie soll nicht glauben, er würde nach ihrer Pfeife tanzen. Nein, da geht es nicht, da bin ich mit Vera in London, sagt Monika ins Telefon, als er sich doch bei ihr rührt. In London? Davon hast du mir ja gar nichts erzählt. Warum sollte ich? meint Monika. Philipps Verstand stimmt ihr sofort zu, warum sollte sie? Aber sein Verstand hat nicht viel zu sagen in diesem Moment, es wurmt ihn gewaltig, daß sie ausgerechnet so kurz vor seiner eigenen Abreise selbst Ferien machen muß. Er wird die beiden vom
Weitere Kostenlose Bücher