Und nie sollst du vergessen sein
beträufelte die Staude mit wenigen Spritzern Wasser und lockerte die Erde um die Stiele etwas auf.
Nein, seinen grünen Daumen hatte er von Zuhause nicht vererbt bekommen. Dafür hatten sich seine Eltern viel zu sehr mit sich selbst beschäftigt, als dass sie die Schönheit der Natur sehen konnten, geschweige denn sie genieÃen, verinnerlichen oder lieben. Er hatte sich all das Wissen um Blüten, Blätter und Knospen, welche Pflanzen man wie pflegt und düngt und wann sie blühen, verwelken und wieder von Neuem erblühen selbst angeeignet. Nun profitierte er von diesem Wissen und er wusste, seine Pflanzen, besonders seine Rosen waren die schönsten im Ort, wenn nicht sogar im ganzen Land, und hätten sicher so manchen Preis gewonnen und so manche Auszeichnung erhalten. Wenn er nur gewollt hätte, dass sein Liebling für die Welt bestimmt gewesen wäre. Aber das war diese Rose nicht, und der, der sie auÃer ihm auch nur einmal erblicken würde, der musste sterben. So wie es schon bei Medusa oder in der biblischen Ãberlieferung von der Flucht Lots und seiner Familie aus der zerstörten Stadt Sodom gewesen war, als seine Frau nicht hören wollte und zur Salzsäule erstarrte, als sie sich gegen Gottes Geheià umdrehte und noch einmal einen Blick auf ihre geliebte Stadt werfen wollte.
Auch Franz Marder hatte sich nicht an sein Gebot gehalten. Und Maria Reisinger würde die Nächste sein, die ihr Leben verwirkt hatte, weil sie in das verbotene Paradies eingedrungen war und mit ihren so neugierigen Augen das Schönste gesehen hatte.
sechsundzwanzig
Sie schreckte auf. Noch im Halbschlaf hörte sie die Kirchenglocken einmal schlagen. Im Fernsehen liefen bereits die Spätnachrichten.
Ist es schon so spät, fragte sie sich insgeheim und suchte, ohne groà den Kopf zu bewegen, nach ihrer Katze Labelle. Aber ihr geliebtes Haustier konnte sie nirgendwo entdecken und so räkelte sie sich noch einmal in ihrem Sessel, ehe sie sich â gewissenhaft prüfend, ob sie schon die Lockenwickler im Haar hatte â aufrichtete.
Etwas umständlich und mühsam zugleich drückte sie die Taste der Fernbedienung für den Videotext. 23.32 Uhr zeigten die leuchtend-grünen Zahlen an. Maria Reisinger erschrak, als ihr bewusst wurde, dass es wirklich schon so spät war, und doch, fast so, als würde sie der automatischen Zeitmessung im TV-Gerät nicht glauben, schaute sie erneut hin in der Hoffnung, dass sie sich geirrt hatte.
âJetzt muss ich mich aber beeilenâ, sprach sie nun laut zu sich selbst. Als sie den Raum verlieÃ, fuchtelte eine Wetterfee aufgeregt mit den Armen über der Deutschlandkarte herum und erzählte eifrig, dass es in den Mittelgebirgslagen am morgigen Montag den ganzen Tag nebelig sein und die Temperaturen nur knapp über die null Grad Celsius klettern würden.
Maria Reisinger schaltete das Licht aus, machte dafür aber die kleine Stehlampe auf der Kommode im Flur an, holte ihr Nachthemd aus dem Schlafzimmer und wollte gerade ins Badezimmer gehen, als sich etwas Weiches, Warmes und sehr Anschmiegsames an ihrem rechten Bein rieb.
âLabelle, da bist du ja. Bleib schön hier, Mami geht sich nur kurz die Haare waschen und dann kuscheln wir uns ins warme Bett.â Maria Reisinger nahm ihren anthrazitgrauen Liebling hoch, vergrub ihren Kopf in das weiche Fell und lieà dann Labelle wieder herunter, aber nicht ohne ihr noch einen leichten Klaps mit auf den Weg zu geben.
âBis gleich.â
Der Ort lag unter einer Nebelglocke, die für einen Fremden bedrohlich, gar erdrückend war, für die jedoch, die den Nebel liebten, so etwas wie Schutz und Geborgenheit vermittelte. Nur hin und wieder, genau dort, wo die StraÃenlaternen etwas Licht abgaben, konnte man schwach â wie durch einen Schleier â die Umrisse von Häusern, Autos oder Büschen schemenhaft erkennen. Ansonsten wäre alles stockdunkel gewesen, hätte der Nebel die Lichtstrahlen nicht durch die Dunkelheit gestreut.
So hatte er keine Mühe â und dafür kannte er sich auch viel zu gut hier aus â, zielgerichtet und doch behutsam durch die StraÃen zu huschen. Es war nicht weit bis zu dem Haus, das in dieser Nacht das Ziel seiner Begierde war. Begierde, das war der richtige Ausdruck für den immerwährenden Antrieb, der ihm so viel Kraft, Stärke und Disziplin verlieh.
Er musste nur die StraÃe hinunter
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