Und Nietzsche lachte
denen er es zu tun hatte, sich keineswegs für therapiebedürftig hielten. Im Gegenteil. Sie fühlten sich völlig intakt, meinten bestens Bescheid zu wissen, kamen überhaupt nicht auf die Idee, nach so etwas wie Sinn zu fragen. Folglich hielten sie Sokrates für einen nervtötenden Störenfried, dessen man sich besser früher als später entledigt. Was dann ja auch geschah.
Was ich aber eigentlich sagen wollte: Sokrates hatte ein Problem damit, dass er bei seinen Mitmenschen geistige Pathologien entdeckte, von denen sie überhaupt nichts ahnten. Und eben dieser Umstand dauert auf fatale Weise zweieinhalbtausend Jahre später noch immer fort. Denn auch in unserer modernen Welt scheinen mir Millionen Menschen geistig und seelisch zu leiden, ohne sich selbst als leidend zu empfinden. Weil ihr Leiden, ihr Unglück, ihre Sinnlosigkeit und Langeweile für sie zum Normalzustand geworden sind und sie über jede Menge Mittel und Wege verfügen, um sich durch Zerstreuung und Unterhaltung von ihrer inneren Not abzulenken.
Wenn Sinnverlust die Krankheit der Gegenwart ist, dann könnte es in der Tat an der Zeit sein, die sokratische Sorge um die Seele neu zu beleben und sich langsam, aber sicher an die Menschen heranzupirschen, um sie an die in ihrem Inneren glimmende Frage nach dem Sinn zu erinnern, die sie beinahe vergessen haben. Und genau das ist es, was Sokrates als philosophische Seelsorge verstand: »Nichts anderes tue ich, als dass ich umhergehe, um Jung und Alt unter euch zu überreden, sich ja nicht immer nur um den Körper und das Vermögen zu kümmern, sondern vielmehr für die Seele Sorge zu tragen, damit sie aufs Beste gedeihe.«
Sokrates ging es darum, einen freien, von vorgeprägten Erwartungen und Denkmustern unabhängigen Zugang zur Wirklichkeit des Lebens zu gewinnen. Er wollte, dass die Menschen bei ihrer Deutung des Lebens, ihrer Sinnsuche, ihrem Wunsch nach Orientierung mehr ihrer eigenen Erfahrung trauen als den Meinungen und Vorurteilen, die sie – bewusst oder unbewusst – von anderen übernommen haben; und dass sie auf diese Weise nicht nur schön über das Wahre, Gute und den Sinn des Lebens daherschwätzen können, sondern es auch wirklich erfahren.
Aber wie macht man das? Sokrates’ Vorschlag lautet: durch geistiges Entgiften. Wenn wir uns die Aufgabe vornehmen, den Sinn für den Sinn zurückzugewinnen, müssen wir reichlich geistigen Müll rausschaffen, bevor wir richtig loslegen. Wir müssen unser vergiftetes Denken durch Nach-Denken kurieren und uns in Münchhausenscher Manier an den eigenen Gedanken aus dem Sumpf des Denkens ziehen, indem wir unseren Konzepten und Begriffen in die dunklen und verborgenen Schächte nachsteigen, aus denen sie hervorgekrochen sind. Wir müssen Licht in das verschlungene und unzugängliche Wurzelreich unseres Denkens bringen, weil wir die Macht der Konzepte nur brechen können, wenn wir ihre Genealogie ins Bewusstsein heben. Da schmelzen sie dann wie der Schnee in der Sonne. Aber solange sie im Dunkel des Unbewussten lagern, vereisen sie unser Herz und unseren Geist.
Wenn man sich dann in Platons Dialogen anschaut, was Sokrates mit seinen Gesprächspartnern tut, ahnt man, wie eine solche mentale Entgiftungskur aussehen kann: Der Mann räumt auf, gründlich. Er entsorgt den Gedankenmüll – mindfuck , wie man es heute nennt. Wieder und wieder werden wir in Platons Dialogen Zeuge, wie Sokrates den bornierten Bürgern seiner Heimatstadt auf den Zahn fühlt, nachhakt, weiter bohrt. Unermüdlich klopft er deren faule Ansprüche auf Wissen und Weisheit ab; so lange, bis da nichts übrig bleibt als ein Scherbenhaufen sinnloser Phrasen. Aber dann, wenn sie so richtig verwirrt sind und kein Stein der geistigen Gebäude, in denen sie sich so behaglich eingerichtet hatten, mehr auf dem anderen steht, dann frohlockt er, weil er endlich mit seiner Aufbauhilfe beginnen kann! Geistiges Entrümpeln, das können wir von Sokrates lernen, ist aller Weisheit Anfang.
Deswegen möchte ich mir nun erlauben, einen philosophischen Sperrmüll-Tag einzulegen, um die oben erwähnten vier gängigen Sinnkonzepte auszumisten. Danach kann der Sorge um die Seele zweiter Teil beginnen: die Aufbauarbeit. Denn wenn wir erst mal die gängigen Sinnerwartungen und -konzepte abgeschüttelt haben, können wir uns eine tragfähige Theorie vom Sinn des Lebens anschauen. Womit zugleich der Boden bereitet wäre, um eine Lebensform zu skizzieren, die es uns erlaubt, am Ende ein wirklich sinnvolles
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