Und Nietzsche lachte
gewordenes Menschenwerk seien.
Ich glaube, ich muss Ihnen nicht lang und breit darlegen, dass Schmid sich damit in der Tradition der Gleichsetzung von Sinn und Bedeutung bewegt. Für ihn ist klar: Der Sinn des Lebens ergibt sich aus dem Zusammenhang, dem Kontext, den wir für unser Leben knüpfen. Wir versuchen unablässig, uns einen Reim darauf zu machen, was uns widerfährt. Wir versuchen unablässig, die Mannigfaltigkeit der Ereignisse in einen sinnvollen Zusammenhang zu rücken – eine Art »roten Faden« in sie hineinzulesen, um so aus der chaotischen Abfolge von Szenen eines Lebens einen stimmigen Plot zu stricken. Anders gesagt: Wir sind dauernd dabei, ein Drehbuch für unser Leben zu entwerfen, um dann die uns selbst zugedachte Rolle möglichst erfolgreich zu spielen, und zwar so, dass wir uns bejahen und schön finden können; so, dass sich die Kluft zwischen Vergangenheit und Gegenwart auf eine logisch-stimmige Weise schließt.
Wo die retrospektive Selbstdeutung umschlägt zum prospektiven Selbstentwurf, spinnt Schmid den von Nietzsche gesponnenen Faden des schaffenden Willens weiter. Die von ihm anempfohlene selbstmächtige Autorschaft des eigenen Lebens erfordert zweierlei Kompetenzen: die Deutungskompetenz im Blick auf die Vergangenheit und die Gestaltungskompetenz im Blick auf die Zukunft. Kommt beides zusammen, gelingt das, was Schmid in Anlehnung an den französischen Philosophen Michel Foucault eine »Ästhetik der Existenz« nennt: eine »kunstvolle Gestaltung der Existenz«, »durch die das Leben selbst zum Kunstwerk wird« – zum schönen Kunstwerk, das man ohne Wenn und Aber bejahen kann und das uns deshalb sinnvoll erscheint.
Damit haben wir die wichtigsten Bausteine von Wilhelm Schmids philosophischer Lebenskunst zusammengetragen. Zumindest sind wir nun gut gerüstet, seine eigene Zusammenfassung zu vernehmen: »Lebenskunst kann heißen, sich ein schönes Leben zu machen , im Sinne von: Das Leben bejahenswerter zu machen, und hierbei eine Arbeit an sich selbst, am eigenen Leben, am Leben mit Anderen und an den Verhältnissen, die dies Leben bedingen, zu leisten. Die Selbstmächtigkeit, die kunstvolle Gestaltung der Existenz, der Akt der Wahl, die Sensibilität und Urteilskraft, die Realisierung von Schönheit: All diese Momente kommen darin überein, zu einem erfüllten Leben beizutragen, das bejahenswert ist.«
Hm, was sagen Sie dazu? Klingt schon sehr überzeugend, oder? Sehr zeitgemäß auch. Nicht so brutal-radikal wie Nietzsche – aber dabei ebenso aufrichtig und konsequent. Kein Gott, keine Idee, kein Sittengesetz; keine Metaphysik und keine Moral; kein himmlischer Schöpfer unseres Lebens, sondern wir selbst als Autoren unseres Seins; kein allmächtiger Gesetzgeber-Gott, sondern ein selbstmächtiger Künstler-Mensch. Ich würde sagen: Hier haben wir es mit einer starken, sehr starken Theorie vom Sinn des Lebens zu tun – und einer höchst plausiblen Strategie der Sinnstiftung: Sich ein schönes Leben machen! Klar, wer wollte das nicht. Und wenn dann auch noch das große »Ja!« eines Viktor Frankl dabei herauskommt – was wollte man mehr?
Aber halt, stopp! Kommt es denn wirklich dabei heraus? Hatte Frankl nicht klipp und klar gesagt: »Sinn muss gefunden, kann aber nicht erzeugt werden«? Hm, was uns Schmid und Nietzsche vorschlagen, läuft aber auf das genaue Gegenteil hinaus: Sinn muss erzeugt, kann aber nicht gefunden werden! Das wäre ihrer beider Botschaft. Wie geht das zusammen?
Antwort: Gar nicht! Der Sinn des »sieghaften ›Ja!‹«, von dem Viktor Frankl Zeugnis ablegt, er lässt sich weder mit Nietzsches, noch mit Schmids Theorie des Sinns erklären. Denn dass ein letzter Sinn einem »von irgendwoher entgegenjubelt«, ist in beider Denken nicht vorgesehen. Und tatsächlich ist es auch gänzlich unvorstellbar, die Sinnerfahrung Frankls als Produkt einer selbstmächtigen Autorschaft des eigenen Lebens zu deuten. Als ob er an jenem grauen bayrischen Wintermorgen erst auf sein vergangenes Leben geblickt und dann einen roten Faden hineingewoben hätte, um sich dann selbst so zu entwerfen, dass er sich in seiner irrsinnigen Situation schön und bejahenswert finden könnte. Nein, so kann es nicht sein. Und es kann auch nicht sein, dass er als kühner, schaffender und übermütiger Übermensch sich in der Häftlingskolonne selbst »da capo« zugerufen hätte. So viel Heroismus wäre wohl sogar für einen Frankl zu viel gewesen – den er aber hätte aufbringen müssen,
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