Und Nietzsche lachte
Schön-Gemachten, nicht die Qualität des Schön-Gewollten; sondern es ist die Qualität des Schön-Seins. Oder, um es in meiner Sprache zu sagen: Es ist der Lichtglanz des Guten, Wahren und Schönen – die Aureole des Sinns, die nicht hinter oder jenseits der Welt erstrahlt, sondern mitten in ihr. Immer dann, wenn Sinn sich ereignet und Wahrheit wie ein Lichtfunken vor uns aufscheint. Dann sind die Phänomene gerettet. So bleibe ich der Erde treu.«
Nietzsche schaute verächtlich auf Platon: »Was ist Wahrheit?«, grunzte er in seinen Bart, »Ich will es dir sagen: Wahrheit, das ist ein bewegliches Heer von Metaphern, Metonymien, Anthropomorphismen – kurz, eine Summe von menschlichen Relationen, die poetisch und rhetorisch gesteigert, übertragen, geschmückt wurden, und die nach langem Gebrauche dem Volke fest, kanonisch und verbindlich dünken: die Wahrheiten sind Illusionen, von denen man vergessen hat, dass sie welche sind.«
Platon seufzte. Nietzsche fuhr fort: »Vernunft ist Verstellung, Ideen sind Lüge. All das ist Täuschung, ein Lügen und Trügen, ein im erborgten Glanz leben, Maskiertsein – eine verhüllende Konvention, ein Bühnenspiel vor Anderen und vor sich selbst. Tief eingetaucht in Traumbilder ist dein Geist, Platon, dein Auge gleitet nur auf der Oberfläche der Dinge herum und sieht Formen, ihre Empfindung rührt nirgends die Wahrheit, sondern begnügt sich, Reize zu empfangen und gleichsam ein tastendes Spiel auf dem Rücken der Dinge zu spielen.«
Platon lächelte. »Du denkst zu viel mit deinem Kopf; und wo du willst, solltest du lieben«, flüsterte er Nietzsche zu.
»Ich liebe die Menschen«, erwiderte der, »aber mehr noch liebe ich die Wahrheit, und die hast du gründlich beschmutzt! In Hinterwelten hast du sie verlegt! Der Erde bist du fremdgegangen mit deinen ewigen Ideen. Das Vergängliche hast du zum Gleichnis verdreht, indem du das Unvergängliche erfandest. Ich aber sage dir: Dein Unvergängliches – das ist ein Gleichnis! Dein ewiger Sinn, deine Ideen und dein Gutes – das sind Abstraktionen, das ist leerer Schein, apollinisches Gewäsch.«
Platon reichte Nietzsche ein Taschentuch, denn ihm stand der Schweiß auf der Stirn. Und dann geschah das Unerhörte: Ein Blitzstrahl durchzuckte den ortlosen Ort. »Nein!«, donnerte die Stimme des Gottes. »Du irrst, Sterblicher! Du überhebst deinen Geist! Erkenne dich selbst! Halte das Maß! Nie kannst du die Wahrheit schaffen. Nie als Illusion sie zwingen! Wo sie ist, da ist sie ewig. Wo sie strahlt, da ist sie schön. Nicht gemacht und nicht erfunden. Sinn von Sinn, doch nicht im Jenseits. Hier und Jetzt und nirgends sonst. Sehe hell und denke nicht! Sage wahr und wolle nicht! Reinige dir Geist und Auge! Höre dann, was Platon sagt!«
Nietzsche war getroffen. Wie ein Pfeil trafen ihn die Worte des Gottes. Und er bemerkte mit Staunen – wachte oder träumte er? –, dass Platon bedächtigen Schrittes um ihn schlich und ihm dabei unsichtbare Fesseln abnahm.
Und Nietzsche weinte.
Von Lichtgestalten, Pferdewagen und der guten Stimmung des alten Platon
Die Welt ist vollkommen
Erinnern Sie sich an das, was ich anfangs von Sokrates und seiner »Sorge um die Seele« erzählt habe? Von seinem therapeutischen Bemühen, seine Gesprächspartner von ihren unbedachten, undurchdachten, aber oft doch gar so liebgewonnenen Denkgewohnheiten und Sichtweisen zu befreien? Ja? Dann haben Sie gewiss bemerkt, dass ich in der ersten Halbzeit dieses Buches ein bisschen Sokrates gespielt habe. Dann wird Ihnen auch nicht entgangen sein, dass ich mir einen Spaß daraus gemacht habe, den heute gängigen Sinn-Deutungen und Sinn-Erwartungen auf den Zahn zu fühlen, sie zu durchforsten und ihre Entstehungsgeschichte bloßzustellen. Und wahrscheinlich ahnen Sie auch, warum ich das letzte Kapitel, gut sokratisch eben, mit einer Aporie enden ließ bzw. mit einem Vorschlag, wie sich diese Aporie auflösen lässt: nämlich indem wir uns verabschieden von dem alten, theologisch grundierten Gedanken, Sinn sei dasjenige, was – von Gott oder Mensch, gleichviel – gewollt ist, gewollt werden soll oder gewollt werden kann. Und indem wir stattdessen den Gedanken erproben, Sinn sei eine Qualität des Seins, die uns zuweilen widerfährt, geschenkt wird, sich ereignet. Wobei ich schon angedeutet hatte, wo sich eine entsprechende philosophische Theorie des Sinns finden lässt: nämlich bei den alten Griechen.
Das vorausgeschickt, leuchtet Ihnen vielleicht ein, dass
Weitere Kostenlose Bücher