Und Nietzsche lachte
andere Götter – allen voran einen, der das genaue Gegenteil der apollinischen Schönheit und Ordnung verkörperte, der Rausch und Zerstörung liebte, der Chaos und Taumel zelebrierte: Dionysos. Und ausgerechnet mit ihm teilte sich Apollon sein Heiligtum in Delphi. Die faszinierende Wahrheit über die griechische Kultur lautet: Die beiden waren Partner. Sie betrieben ihre Coaching-Agentur gemeinsam. Welch tiefe Weisheit!
Viertes Zwischenspiel im Himmel
Nietzsche war betroffen. Hatte er dem alten Platon womöglich doch Unrecht getan? Hatte er ihn womöglich missverstanden und sich von Aristoteles auf die falsche Fährte setzen lassen, als dieser seinen Lehrer zum Urheber einer »Ideenlehre« machte – zum Ahnherrn aller Hinterweltler? Er war sich nicht mehr sicher.
»Naja«, versuchte er sich zu trösten, »immerhin habe ich ihn zum ›schönsten Gewächs des Altertums‹ erklärt.« Aber das änderte nichts daran, dass er auch zum »Kampf gegen Platon« aufgerufen hatte. Und zu Recht, wie ihm schien, denn es hieß doch wohl tatsächlich die Wahrheit auf den Kopf stellen und das Perspektivische, die Grundbedingung allen Lebens, selber zu verleugnen, so vom Geiste und vom Guten zu reden, wie Platon es getan hat. Ja, war sie denn nicht eine »Krankheit«, diese Lüge vom »reinen Guten«, die Platon in die Welt gesetzt hatte?
Sein Gedankenkarussell kam wieder in Fahrt. Er erinnerte sich: Ach, wie viel Lust er doch daran gehabt hatte, all dieses Platonische Gewäsch mit seinem Hammer zu zertöppern, all dieses Gerade, Geordnete, Stimmige. Hatte er jemals so etwas in seinem Leben erlebt? Nein, hatte er nicht. Also wollte er auch nichts davon hören. Apollon war ein Traum – ein schöner Traum, zugegeben. Und gewiss, die von Platon erträumte Welt hatte ihren Charme. Aber es war doch alles Lüge und Betrug am Leben. So konnte man keinen tanzenden Stern gebären. Dafür brauchte es Chaos. Dafür brauchte es Dionysos und nicht Apollon! Diesem wilden, rasenden Gott fühlte er sich verpflichtet.
»Ich bin ein Jünger des Philosophen Dionysos«, sprach er zu sich, »ihm habe ich meinen Zarathustra als Gabe dargebracht – jenen dionysischen Unhold, den ich antreten ließ, um alle metaphysische Trösterei zum Teufel zu schicken.« Deshalb, versuchte er sich zu trösten, konnte er nun einmal gar nicht anders als Platon verfluchen. Zumindest dafür, dass er sich so hemmungslos diesem unseligen Sokrates anvertraut hatte – ihm, diesem Gegner des Dionysos, der sich gegen Dionysos erhoben hatte. Oh ja, dafür hatte dieser alte Pöbelmann am Ende seinen Schierling doch verdient. War er doch bei Lichte besehen der Vater all dieser blutarmen moralischen Lebensverneiner – einer, der glaubte, das Dasein korrigieren zu müssen. Was hatte er doch kurz vor seiner Hinrichtung gesagt, dieser weiseste Schwätzer, den es je gegeben hat: »O Kriton, ich bin dem Asklepios einen Hahn schuldig.« Und was hatte Sokrates damit sagen wollen? Er, Nietzsche, wusste es genau: »O Kriton, das Leben ist eine Krankheit!« Das war die eigentliche Botschaft, mit der Sokrates sein wahres, verhängnisvolles Gesicht gezeigt hatte: Er war ein Pessimist! Er hatte eben nur eine gute Miene zum Leben gemacht und zeitlebens sein letztes Urteil, sein innerstes Gefühl versteckt. Sokrates, Sokrates hatte am Leben gelitten! Und er hatte noch seine Rache dafür genommen – mit jenem verhüllten, schauerlichen, frommen und blasphemischen Worte!
So tief war Nietzsche in seine Reflexionen versunken, dass er nicht bemerkte, wie sich auf leisen Sohlen Sokrates von hinten an ihn herangeschlichen hatte. Und so fuhr ihm ein grässlicher Schreck in die Glieder, als jener plötzlich mit lautem Gebrüll vor ihn sprang und unablässig »Io, Io, Io« brüllte. Aber damit nicht genug. Sokrates griff nach Nietzsches Arm und zog ihn gnadenlos mit sich.
»Brüderchen, komm tanz mit mir«, flüsterte er ihm breit grinsend ins Ohr.
Nietzsche traute seinen Ohren kaum: »Du, Sokrates, du willst mit mir tanzen? Ich dachte, du hasst das Leben. Ich dachte, du betrachtest das Leben als eine Krankheit?«
»Io, wer hat dir denn ins Hirn geschissen?«, lachte da Sokrates und stieß Nietzsche von sich. »Weißt du nicht, dass ich ein Silen bin und den Satyrn gleiche? Io, ich bin ein Bocksfüßiger, ein Flötenspieler, ein ewig lüsterner Gefolgsmann von diesem da!« Dabei zeigte er auf Dionysos, der mit göttlicher Faust einen irrsinnigen Rhythmus auf seiner Trommel schlug.
»Ha, ich
Weitere Kostenlose Bücher