Und Nietzsche lachte
habe Freude am Chaos, mein Bruder! War ich’s nicht, der einst sprach, man müsse noch Chaos in sich haben, um einen tanzenden Stern gebären zu können? Oder warst du es? Gleichviel. Und war ich es nicht, der die Selbstgefälligen und Gebildeten aufs Glatteis führte; der sie erstarren ließ wie vom Schlage getroffen, wenn ich mit ihnen verkehrte? Oder warst du es? Gleichviel! Ha, lass uns tanzen, Bruder, auf, auf. Ich würde nur an einen Gott glauben, der zu tanzen verstünde! Jetzt bin ich leicht, jetzt fliege ich, jetzt sehe ich mich unter mir, jetzt tanzt ein Gott durch mich!« Da riss er Nietzsche an sich und wirbelte ihn durch die Luft. Und Nietzsche staunte …
Von der Kunst, einen tanzenden Stern zu gebären, und warum Tragödien sinnvoll sind
Man muss noch Chaos in sich haben!
Kennen Sie Alexis Sorbas? Diese wunderbare Romanfigur von Nikos Kazantzakis, die Anthony Quinn einst auf der Leinwand lebendig werden ließ in einem großartigen Film, dessen schönste Szene eine Katastrophe ist? Nicht? Dann lassen Sie mich kurz erzählen: Viel Zeit und Geld hatten Sorbas und sein englischer Auftraggeber darauf verwendet, eine Seilbahn zu bauen, mit deren Hilfe sie die dringend für die Inbetriebnahme ihrer Mine benötigten Baumstämme zu Tal befördern wollten. Endlich wird die Seilbahn eingeweiht, der erste Baumstamm saust herab, die Konstruktion wackelt; ein zweiter Baumstamm folgt, und das ganze technische Wunderwerk bricht unter Kabumm und Getöse in sich zusammen. Das erschreckte Volk flieht in alle Richtungen, ein Pope fällt vom Esel – und Alexis Sorbas klopft sich den Staub von seiner Jacke, schaut nach seinem Auftraggeber und ruft: »Boss, hast du jemals etwas so schön zusammenkrachen sehen?!« – Das ist Dionysos!
Das ist das Leben, die andere chaotische, zerstörerische Seite: die dunkle Seite – die Nacht, in der alles unfassbar wird, in der sich die Konturen auflösen, in der es unheimlich wird und man nicht mehr weiß, woran man sich halten soll. Es ist die Kontrastfolie zum klaren Licht der geordneten apollinischen Welt: das »uralte Chaos« (Hölderlin), das aller Ordnung spottet – die Sinnlosigkeit, die allen Sinn mit einem Handstreich auslöscht. Auch das ist das Leben – und auch diese Facette des Lebens hat in der griechischen Mythologie ein Gesicht bekommen, zu dem sie sich gestalthaft verdichtet: Dionysos.
Diese Wirklichkeit müssen wir dazunehmen, wenn wir uns die griechische Erfahrung vom Sinn des Lebens in ihrer ganzen Tiefe und Tragfähigkeit vor Augen führen wollen – weil wir nur so ein Verständnis dafür gewinnen werden, wie es angehen kann, dass Menschen auch dann noch »Ja!« zum Leben sagen, wenn die Welt um sie herum nun gerade nicht in Ordnung ist, sondern in einem dunklen Abgrund des Irrsinns versinkt. Denn das Ungeheuerliche an dem Gott Dionysos ist, dass in ihm der Unsinn, der Irrsinn, der Wahnsinn, die Unordnung und das Chaos selbst zu einer bejahenswerten göttlichen Gestalt verdichtet sind. Dionysos, so könnte man sagen, steht für den Sinn des Unsinns, ja mehr noch: für den Sinn des Wahnsinns. Und nur wenn wir verstehen, inwiefern für die griechische Weltwahrnehmung selbst Unsinn, Wahnsinn und Irrsinn noch ein göttliches Antlitz haben und von dem Lichtglanz göttlichen Sinns umstrahlt sind, werden wir ahnen können, was eine wirklich tragfähige Sinnerfahrung ist.
Vom Sinn des Wahnsinns – Dionysos und der Zauber der Raserei
Wer also ist dieser Dionysos? – Keine leichte Frage, denn die Deutungen der Religionsforscher und Altertumswissenschaftler gehen weit auseinander. Schon der Römer Cicero hatte das geflügelte Wort geprägt: »Dionysos multos habemus« – wir haben viele Dionysosse. Er ist deshalb schwer zu fassen, dieser Gott, und trotzdem nah, wie wir noch sehen werden. Dessen ungeachtet gibt es aber einige Charakteristika, die in der von ihm erzählenden Mythologie immer wieder in Erscheinung treten. Für ein Kurzporträt des Dionysos müsste das ausreichen – dafür, Ihnen den Gott des Wahnsinns und Unsinns vorzustellen; ihn, der als Gott den Sinn des Wahnsinns und Irrsinns verbürgt.
Noch einmal also: Wer ist Dionysos? Antwort Nummer eins: Er ist der kommendeGott. Dionysos ist immer im Kommen. Zu seinem Wesen gehört es, nicht da zu sein, um dann plötzlich und überraschend zu erscheinen. Wobei er meistens aus dem Wasser kommt oder zumindest von Übersee anrückt. Und wenn er dann da ist, dann kommt er den Menschen äußerst nahe –
Weitere Kostenlose Bücher