Und Nietzsche lachte
selbst und entwirf dein Leben nach Maßgabe deiner Deutung, auf dass es dem Bild entspreche, das du dir von dir gemacht hast! Das wäre Schmid. Apollons Weisung würde lauten: Erkenne dich selbst – und anerkenne dich in deinem So-Sein. Täusche dich nicht über dich selbst! Nimm dich auch in dem an, was dir an dir nicht gefällt. Und dann arrangiere dein Leben nach Maßgabe der absoluten Norm der Harmonie, auf dass es harmonisch und absolut bejahbar ist!
Sehen Sie den Unterschied? Die apollinische Lebenskunst macht genauso wie die Schmidsche Lebenskunst Ernst mit der Individualität des Menschen. Diese ermuntert genauso wie jene dazu, dem individuellen Leben eine schöne Gestalt zu geben. Aber die apollinische Lebenskunst nimmt dabei Maß an dem einen und einzigen, absoluten Gleichgewichtspunkt, der sich in Ihrem Leben finden lässt. Während die Schmidsche Lebenskunst Maß nimmt an dem Bild, das Sie von sich haben. – Nun fragen Sie vielleicht, warum das eine besser sein soll als das andere. Warum ich meine, Ihnen die apollinische Lebenskunst ans Herz zu legen und nicht die Schmidsche? Aus einem einzigen Grund: Weil ich glaube, dass das »Ja!« zum eigenen Leben – dieses unendlich kostbare, lebenswichtige »Ja!« – in der apollinischen Lebenskunst nachhaltiger, tiefer, tragfähiger, intensiver tönt als in der Schmidschen. Denn es ist nicht gemacht, sondern gegeben. Es tönt auf der Grundlage des Annehmens dessen, was ist – und aus der Erfahrung, dass Sie so, wie Sie geworden sind, in Ordnung sind! Während das Schmidsche »Ja!« auf der Grundlage dessen tönt, wie Sie sein wollen. Was – anders als das absolute Maß des apollinischen Gleichgewichtspunktes – immer relativ ist, denn es könnte ja immer auch anders sein. Selbst wenn Sie im Sinne Schmids Ihr Leben so gestalten, dass es bejahenswert ist, werden Sie dabei nie die Frage los, ob es nicht anders noch bejahenswerter hätte sein können. Während Ihnen das apollinische »Ja!« – weil es gefunden und nicht erfunden ist – siegreich entgegenjubelt; auch da, wo die Situation, in der Sie sich befinden, so ganz und gar nicht dem gemäß ist, wie Sie sich und die Welt gerne gehabt hätten.
Deshalb bin ich mit Ihnen den weiten Weg zurückgegangen: zurück in die Zukunft einer Seinsauslegung, die – ohne die nicht zu vernachlässigende Individualität eines jeden Menschen zu leugnen – doch ein für alle Individuen und individuellen Situationen gleichermaßen anwendbares Verständnis von Sinn vorschlägt; und damit ein verlässliches, nachhaltiges und tragfähiges Kriterium für die Sinnhaftigkeit unseres Lebens anbietet: Sinn ist, wenn ES STIMMT. Und es stimmt, wenn wir mit uns und der Welt im Einklang sind.
Das ist die zentrale Erfahrung des Lebens, die sich im Mythos zur Gestalt des Apollon verdichtete: die Erfahrung eines Maßes, das wir nicht machen können, sondern das auf uns zukommt und sich immer da bewährt, wo ES SICH TRIFFT. Dieses Maß ruft uns mit hoheitsvoller Autorität dazu auf, uns selbst zu erkennen und in Ordnung zu bringen. Es heilt unseren Leib und unsere Seele, weil es uns dazu anhält, uns in der Komplexität unseres Geworden-Seins anzunehmen. Dieses Maß ist deshalb so genau, weil es exakt den Punkt trifft, an dem das Mobile unseres Lebens im Gleichgewicht ist und die Symphonie unseres Lebens in harmonischen Resonanzen schwingt. Es hält uns dazu an, die zu werden, die wir sind, und uns somit in der Wahrheit unseres Seins zu offenbaren. Indem wir für uns und für andere erkennbar werden, zeigt es uns in einem glanzvollen Licht, in dem wir schön sind – so dass wir uns gutheißen und bejahen können; ein Licht, in dem wir sinnvoll sind.
Klingt schön, oder? – Oder? – Oder? – Sie zögern? Ein Widerspruch regt sich? Vielleicht denken Sie: »Ach, wenn es doch so einfach wäre! Ach, wenn mein So-Sein doch so wäre, dass ich es zu einem schönen Ganzen arrangieren könnte! Ach, wenn es nicht voller Leid und Schmerz, Chaos und Kummer wäre! Ach, wenn das mühsam hergestellte Gleichgewicht meines Lebens nicht immer wieder in die Brüche ginge!« Und wissen Sie was? So denke ich auch. Und nicht nur ich. Auch die Griechen dachten so, denn auch sie litten und ächzten unter der Flüchtigkeit alles Schönen und Geordneten. Auch sie wussten um die Einbrüche des Chaos, der Auflösung und des Todes. Und deshalb war für sie die apollinische Welt nur die eine Seite des Lebens. Deshalb verehrten sie neben Apollon auch noch
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