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Und Nietzsche lachte

Und Nietzsche lachte

Titel: Und Nietzsche lachte Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Christoph Quarch
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dann berückt er sie, dann entrückt er sie, dann verzückt er sie und dann beglückt er sie; vor allem aber verrückt er sie: hinaus aus den gewohnten Bahnen und Bezügen ihres alltäglichen Lebens. Hinaus aus den geordneten Verhältnissen ihrer Lebenswelt und hinein in eine urtümliche Wildheit, Unbehaustheit, Anarchie – zurück ins nackte, rohe und chaotische Leben. Wie ein Sturm fährt er mit wildem Getöse in die Menschen – mit besonderer Vorliebe übrigens in Frauen – und versetzt sie in taumelnden Rausch und zitternde Erregung. Unser »Special consultant« in Sachen Mythologie, Walter F. Otto, bringt es so auf den Punkt: »Die vertraute Welt, in der die Menschen sich so sicher und behaglich eingerichtet hatten, sie ist nicht mehr! Das Tosen der dionysischen Ankunft hat sie hinweggefegt. Alles ist verwandelt. Aber nicht in ein liebliches Märchen, ein Paradies kindlicher Einfalt. Die Urwelt ist hervorgetreten, die Tiefen des Seins haben sich geöffnet, die Urgestalten alles Schöpferischen und Zerstörerischen, mit ihren unendlichen Wonnen und unendlichen Schrecken, sind emporgestiegen und haben das harmlose Bild der wohlgeordneten Gewohnheitswelt zersprengt. Sie bringen keinen Trug und Traum, sie bringen die Wahrheit – eine Wahrheit, die wahnsinnig macht.« Und weiter: »Im Mythos und im Erlebnis der erschütterten Gemüter sprudeln, wenn Dionysos da ist, nährende, berauschende Quellen aus dem Erdboden. Die Felsen tun sich auf und lassen Wasserbäche fließen. Alles Verschlossene öffnet sich. Fremdes und Feindliches verträgt sich in wunderbarer Eintracht. Uralte Regeln haben plötzlich ihr Recht verloren, und selbst die Maße von Raum und Zeit gelten nicht mehr.«
    Wo Dionysos erscheint, verflüssigt sich alles Starre und Feste. Maß und Ordnung verfließen im Strom des Lebens. Alles schlägt um und kehrt sich in sein Gegenteil. Keine Logik, keine Verlässlichkeit, nichts, worauf man bauen könnte. Dionysos kettet die Sonne von der Erde los – aber er, der solches tut, ist ein Gott –, und die Entfesselung selbst ist ein heiliges Geschehen: eines, das bejaht und gut geheißen werden kann, weil es das eine göttliche Leben ist, das hier in seiner chaotischen und ungestalten Vitalität hervorbricht. So liegt es vollkommen in der Logik des Mythos, dass all das in den dionysischen Kreis gehört, was das Leben verflüssigt: allem voran der Wein, der ihm heilig ist und der bei den Kultfeiern des Dionysos reichlich konsumiert wurde; ebenso der ekstatische Tanz und die rhythmische Musik.
    Vor allem dieser Facette des Dionysischen galt Nietzsches Interesse. Die Macht und Wirklichkeit des von ihm so verehrten Dionysos erkannte er überall dort, wo die »Macht des Scheins« (für ihn: die Macht Apollons) gebrochen wurde – und das geschah seiner Auffassung nach vor allem in der Musik. Wo sie mit dionysischer Macht den Menschen ergreift, so Nietzsche, da fühlt sich »jeder mit seinem Nächsten nicht nur vereinigt, versöhnt, verschmolzen, sondern eins […]. Singend und tanzend äußert sich der Mensch als Mitglied einer höheren Gemeinsamkeit; er hat das Gehen und Sprechen verlernt und ist auf dem Weg, tanzend in die Lüfte emporzufliegen. Aus seinen Gebärden spricht die Verzauberung.« Eine Verzauberung, die für Nietzsche aber – ganz wie es auch Otto sah – nicht mehr und nicht weniger ist als der Einbruch der ungeschminkten und schrecklichen Wahrheit von Chaos, Auflösung, Zerstörung und Tod in die friedlich-schiedliche Scheinwelt der Zivilisation: der Einbruch einer Wahrheit, die darin liegt, dass alle Ordnung des Lebens letztlich die Frucht des Chaos ist; und dass aller Bestimmtheit und Individuation des Lebens mit unentrinnbarer Gewalt das Ende bevorsteht.
    Der Tod, das Sterben, die Auflösung – in der göttlichen Gestalt des Dionysos werden sie zu unwiderlegbaren Aspekten des Lebens, denen das große »Ja!« des sinnerfüllten Menschen ebenso gelten muss, wie die schönen und harmonischen Ordnungen des Apollon. Kein Wunder, so gesehen, dass Dionysos selbst Leben und Tod in sich vereint – dass er dem Mythos zufolge selbst den Tod erlitt; und zwar nicht irgendeinen, sondern einen denkbar grausigen, bei dem der Gott von den Titanen in tausend Stücke gerissen wurde. Und kein Wunder, dass sich immer da, wo er die Menschen aus den üblichen Bahnen ihres Lebens schleudert, Abgründe der Gewalt und des Schreckens öffnen. Ein besonders drastisches Exempel dafür statuiert die Tragödie Die Bakchen

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