Und Nietzsche lachte
von Euripides. Sie erzählt davon, dass Dionysos einst in die Stadt Theben kam und dort – wie es seinem Wesen entspricht – alles in Aufruhr versetzte: Vor allem die Frauen wurden ob seiner Nähe »verrückt«, verließen Haus, Hof und Gatten und zogen sich gemeinsam zurück in die Wildnis, wo sie in Eintracht mit den Tieren des Waldes lebten. Allein König Pentheus stellte sich dem Gott in den Weg. Ihm behagte das Treiben der Frauen gar nicht, was ihn veranlasste, als ungebetener Gast heimlich ihrer Zusammenkunft beizuwohnen. Doch entdeckten ihn die rasenden Weiber und rissen, nun vollends vom göttlichen Wahnsinn erfasst, den König in Stücke.
Auflösung, Zerstückelung, Tod – Wahnsinn und Irrsinn. Wesen und Wirklichkeit eines Gottes, dessen Kommen das unheimliche, doppelte Gesicht des Lebens zeigt, »vor dem alle Grenzen, die der normale Tag gesetzt hat, schwinden müssen. Da steht der Mensch«, um noch einmal Otto zu zitieren, »an der Schwelle des Wahnsinns – ja, er ist schon in ihm, wenn auch seine Wildheit, die ins Zerstörerische fortgehen will, noch gnädig verhüllt bleibt. Schon ist er hinausgeschleudert aus allem Gesicherten und Gefestigten, aus allen Ruheplätzen des Denkens und Empfindens, in den Urweltsturm ewiger Wandlung und Neuwerdung todumschlungenen und todberauschten Lebens. […] Lebensfülle und Todesgewalt, beide sind in Dionysos gleich ungeheuer. Nichts ist gemildert, aber auch nichts verzerrt […]; alles nach griechischer Art klar und gestaltet geschaut. Diese Wirklichkeit hat der Grieche in ihrem ganzen Ausmaß ertragen und als eine göttliche angebetet.« Was so viel heißt wie: bejaht und als sinnvoll erlebt, wie ich ergänzen möchte.
Davon zeugen auch die Kultfeiern, die überall in der alten Welt zu Ehren des Dionysos veranstaltet wurden. Immer setzten sie die bestehende Ordnung außer Kraft, und gerne gaben sie etwas von dem Grauen der Urwelt zu erkennen, das immer dann aufzubrechen drohte, wenn Dionysos die Menschen ergriff und die dünne Schicht ihrer Zivilisation porös werden ließ. Etwa, wenn beim Fest der Agrionien in Orchomenos der Dionysos-Priester eine Schar von Frauen verfolgte und – laut Plutarch – angeblich jede erschlug, die er erreichen konnte. Dagegen erscheint der moderne Karneval, das letzte Nachglühen jener alten Dionysos-Feiern, als vergleichsweise harmlose Veranstaltung.
Nun handelt es sich bei dem sonderbaren Kult aus Orchomenos offenbar um eine Ausnahme, die schon in der Antike mit ungläubigem Staunen zur Kenntnis genommen wurde. Wichtig für unseren Zusammenhang ist, dass die alten dionysischen Feiern dazu dienten, in regelmäßigen Abständen dem Wahnsinn freien Lauf zu lassen und die chaotische, wilde, ungezähmte Facette im Menschenleben zuzulassen. Auf diese Weise gelang den Griechen zweierlei, was nach meinem Dafürhalten das eigentliche Geheimnis ihrer ungeheuren kulturellen Blüte ist, deren Glanz bis in unsere Zeit strahlt: Zum einen hielten sie auf diese Weise das Bewusstsein dafür wach, dass alles Leben und alle Zivilisation, alle Ordnung und alle Kultur auf äußerst dünnem Eis gebaut sind – dass sich jederzeit der Abgrund öffnen kann. Dass jederzeit Naturkatastrophen, Seuchen, Gewaltexzesse über die Menschen hereinbrechen können; weshalb sie vermutlich weniger fassungslos vor eben diesen finsteren Aspekten des Lebens stehen konnten als wir Heutigen es tun, die wir dem Chaos kaum noch eine Chance lassen und uns stattdessen darauf verlegt haben, die dunkelsten und finstersten Abgründe per DVD oder Fernsehen ästhetisch zu konsumieren und auf diese Weise von uns fernzuhalten. Was nichts, aber auch gar nichts mit den rauschhaften Erfahrungen früher Dionysos-Feste gemein hat, die sich bedingungslos, mit Haut und Haar, auf die Abgründe des Lebens einließen. Aber das ist ein Thema für sich.
Zum anderen – und das ist nun die Folge des erstgenannten Punktes – war es den Griechen auf diese Weise möglich, eine Balance höherer Ordnung herzustellen: den harmonischen Ausgleich zu schaffen zwischen der schön geordneten, harmonischen und wohltemperierten Welt des Apollon – und dem ungestalten, wüsten, wilden, chaotischen und maßlosen Leben des Dionysos; eine griechische, allzu griechische Balance, die es erlaubte, die innere Widersprüchlichkeit des Lebens, die unauflösbare Polarität von Tod und Leben, nicht nur auszuhalten und anzuerkennen, sondern mit göttlichen Weihen zu versehen und ohne Wenn und Aber zu
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