Und Nietzsche lachte
oder sogar konträren Aspekten zur spannungsvollen Ganzheit zusammenfügt, die immer dann vollkommen realisiert ist, wenn sie in sich in resonanter Harmonie schwingt. Alles ist lógos , wie Heraklit sagte: Ordnung im Fluss, eine Musik voller Dissonanzen und Harmonien, deren Spannung und kontinuierlicher Umschlag die Seele bezaubern. So jedenfalls könnte man die Essenz von Heraklits Philosophie der phýsis zusammenfassen; oder sich zumindest doch einen Reim auf die oft schwer zu verstehenden Fragmente machen, die von ihm überliefert sind.
Auch Platon kreiste in immer neuen Anläufen um diese wunderbare Paradoxie des kosmischen Lebens. Und das GUTE, das ihm tiefster Grund und letzte Quelle alles Seins und Werdens war, erwies sich für ihn auch da noch mächtig, wo es seine ordnende, treffende, stimmende und gestaltgebende Kraft aussetzte, um der unleugbaren Wirklichkeit des Chaos die Ehre zu erweisen. Nur da, wo das Grenzenlose und das Gestaltgebende ineinander verwoben und in der spannungsvollen Harmonie der Weltseele verbunden sind, erklärt Platon in seinem Dialog Philebos , kann sich das Erscheinen der Welt – phýsis – ereignen und das ewige »Werden zum Sein« zutragen. Nur im lebendigen Miteinander von strukturierendem Geist und unterschiedslosem Chaos (bei Platon chôra ) gebiert sich ewig neu der Kosmos, erzählt er im Weltentstehungsmythos seines Dialogs Timaios . Eine völlig indifferente, qualitätslose »Prägemasse« für die phýsis alles Seienden müsse man voraussetzen: ein »unsichtbares, gestaltloses, allaufnehmendes Etwas, das auf eine höchst unerklärliche Weise doch gedacht werden kann«, »ein ewiger offener Raum, der alles Entstehen erst ermöglicht«. Und noch andere gewundene Worte und dunkle Metaphern tischt Platon in diesem Zusammenhang auf, um deutlich zu machen, wie unausweichlich es ist, das vollkommen Unfassbare und Sinnlose als Grund und Mutterboden alles Fassbaren und Sinnvollen vorauszusetzen – wenn auch dieses Unfassbare eigentlich gar nicht denkbar ist und bestenfalls nur »erträumt« werden kann.
Nur weil er immer wieder dem Unsinn abgerungen wird, kann Sinn sich ereignen, könnte man Platons tiefe Einsicht für unseren Zusammenhang reformulieren – ganz so, wie Seiendes nur denkbar ist als dasjenige, was immer wieder dem Nichts abgerungen wird – und immer wieder ins Nichts zurückfallen kann und muss. Ein ewiges Kommen und Gehen (Dionysos!), ein ewiges Umschlagen (Dionysos!) ist dieser Kosmos – ein ständiges Spiel zwischen Sinn und Unsinn, Ordnung und Chaos – ein ewiger Widerspruch, der aber dennoch in der harmonischen Spannung der alles umfassenden Weltseele ausgehalten wird. Ja, mehr noch: der auf wunderbare Weise die im ewigen Werden und Vergehen begriffene Schönheit und Bejahbarkeit dieser Welt hervorbringt. Denn darauf läuft diese tiefste philosophische Deutung der alten mythologischen Bilder doch hinaus: gerade in der paradoxen Harmonie des alles durchdringenden Lebens, gerade in ihrem Gemischt-Sein aus Sinn und Unsinn, Ordnung und Chaos, Dissonanz und Resonanz, ist diese Welt bejahbar und der Kosmos das »schönste Lebewesen«. Gerade weil er dem unendlichen Chaos, dem ewigen Unsinn abgerungen ist, kann Sinn sich überhaupt ereignen.
Denken Sie nur an Viktor Frankl; an sein großes »Ja!«. Es scheint bald so, als ob dieses »Ja!« seine ganze Strahlkraft und Intensität, seine lebenserhaltende Kraft gerade deshalb entfalten konnte, weil es sich so leuchtend von dem Hintergrund des totalen Irrsinns und Unsinns abhob; weil es als Sinnlicht inmitten der tiefsten Sinnfinsternis aufflammte: »Und in diesem Augenblick – leuchtet ein Licht auf in einem fernen Fenster eines Bauerngehöfts, das wie eine Kulisse am Horizont steht, inmitten des trostlosen Grau eines dämmernden bayrischen Morgens –, ›et lux in tenebris lucet‹, und das Licht leuchtet in der Finsternis.«
Sein ist über dem Nicht-Sein gebaut, Sinn ist über dem Unsinn gebaut. Ordnung ist über dem Chaos gebaut – und Leben ist der ewige Umschlag vom Einen ins Andere: dionysische Auflösung und apollinische Komposition. Mit der Zauberkraft der Resonanz und Harmonie fügt der apollinische Geist das Sinnlose in den Sinn, das Vereinzelte in die Form, das Viele in die Ganzheit. Mit der Zauberkraft des Rausches löst der dionysische Geist die Strukturen wieder auf und setzt das Vereinzelte frei zu neuen Konstellationen. Und so geht es immer weiter, denn so ist das Leben, und dieses Leben ist
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