Und Nietzsche lachte
bejahen.
Ihren Ausdruck fand diese Harmonie oder Balance höherer Ordnung darin, dass im heiligsten Heiligtum der alten Welt, in Delphi, Apollon und Dionysos gleichermaßen verehrt wurden. Beide teilten sich das kultische Festjahr: Die Wintermonate gehörten dem Dionysos, die Sommermonate dem Apoll. Und nach einem Bericht des Pausanias stellten die Giebelfelder des delphischen Apollon-Tempels auf der einen Seite Apollon mit seiner Mutter Leto, seiner Schwester Artemis und den Musen dar, auf der anderen Seite Dionysos mit den von ihm in Wahnsinn versetzten Weibern. Ferner gibt es, wie Otto erwähnt, Vasenbilder aus der Zeit um 400 v. Chr., auf denen sich Apollon und Dionysos die Hand reichen. Ja, sogar das Grab des Dionysos wurde in Delphi lokalisiert. All das weist darauf, dass die Verbindung von Dionysos und Apollon, die höhere Synthese dieser beiden grundlegenden, dabei aber antipodischen Mächte des Lebens, dem Geiste des alten Hellas äußerst wichtig war. »Apollon mit Dionysos, dem trunkenen Reigenführer des Erdkreises – das wäre das ganze Ausmaß der Welt.« Sie wäre mit sich im Einklang, verbunden »in dem unendlichen Gegensatz des ruhelos kreisenden Lebens und des stillen, fernblickenden Geistes«, wie Otto schreibt.
Anders gesagt: Die ungeheuerliche und wahrhaft große Kulturleistung des alten Hellas bestand darin, die apollinische Lebenskunst mit der dionysischen Lebenskunst zu verbinden und auf diesem Fundament ein Lebensgefühl zu kultivieren, das uns heute vorbildlich sein könnte: vorbildlich darin, dem Leben gelassener zu begegnen und es selbst da zu bejahen, wo unsere moralischen Wertsetzungen, Wunschbilder und Ideologien uns dazu anhalten, es von uns zu weisen – was dann aber dazu führt, dass wir uns nur noch davonstehlen können: in Zerstreuung, Arbeit, Depression, Burnout, Lethargie oder was sonst die Sinnfinsternis unserer Tage an Symptomen zeitigt.
Des Wider-Spännstigen Zähmung – Heraklit und der Zusammenfall der Gegensätze
Apollon und Dionysos, Ordnung und Chaos, Struktur und Auflösung. Das sind die Pole, zwischen denen das Leben fließt. Und der Sinn des Lebens ist – nach griechischer Auffassung – nur zu finden, wenn wir diesen inneren Widerspruch, diese Paradoxie des Lebens aushalten und in ihrer wechselseitigen und dabei doch stimmigen Verwobenheit annehmen. Es braucht beides: Wer nur die harmonische Welt des Apollon bejaht, kann ebenso wenig das tiefe und tragende Ja zum Leben aussprechen wie derjenige, der nur den ewigen Wandel und Umschlag des Dionysos zu schätzen weiß. Das sieghafte, jubelnde »Ja!«, das nach Viktor Frankl die kostbarste Ressource des Lebens ist, bejaht das Leben in seiner apollinisch-dionysischen Doppelgesichtigkeit, in seiner inneren Widersprüchlichkeit und Absurdität. Es erkennt gerade darin die Bejahbarkeit und Schönheit des Lebens, dass Licht und Dunkel, Wahnsinn und Sinn, Glück und Schmerz in ihm verbunden sind. Die große, echte, tiefe Harmonie des Lebens ist eben nicht Friede Freude Eierkuchen, sondern Hochspannung.
Und darin entspricht sie genau der stimmigen, spannungsgeladenen, inneren Struktur der Welt, die ein Heraklit oder ein Platon in ihrer Tiefe fanden. Phýsis , dieses ewige Kommen und Gehen der Phänomene, dieses Leben des Kosmos, war für sie ein lebendiger Prozess, in dem Widersprüchlichstes verbunden ist: complexio oppositorum (Verflochtenheit der Gegensätze), wie ihr später Bruder im Geiste, Nikolaus von Kues, zu Beginn der Renaissance formulierte.
Damit griff der philosophierende Kardinal ein zentrales Motiv der Weltdeutung des Heraklit auf. Der hatte nämlich 2000 Jahre zuvor den gleichen Gedanken in dunklen Worten formuliert: »Zusammengefasst sind Ganzes und Nichtganzes, Einträchtig-Zwieträchtiges, Einstimmend-Missstimmendes, und aus Allem Eins und aus Einem Alles.« Oder: »Das Wider-einander-Stehende zusammenstimmend und aus dem Unstimmigen die schönste Harmonie«. Und: »Sie verstehen nicht, wie das Unstimmige mit sich übereinstimmt: des Wider-Spännstigen Fügung wie bei Bogen und Leier.« Damit wollte der schon in der Antike sprichwörtlich »der Dunkle« genannte Denker zum Ausdruck bringen: Alles ist in dem einen großen, kosmischen Leben verbunden. Der Kosmos ist in sich widersprüchlich, aber gerade darin liegt seine unwiderstehliche Schönheit, seine Lebendigkeit und seine Bejahbarkeit. Denn alles, was lebt, ist je für sich ein systemisches Geflecht, in dem sich eine Vielfalt von heterogenen
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