Und Nietzsche lachte
eine tragische Figur?
Merken Sie, worauf ich hinauswill? Man kann die Dinge so oder so betrachten. Man kann das Handeln eines Menschen nach Maßgabe der Moral und dem in ihr geltenden Code von Gut und Böse be- und verurteilen. Man kann es aber auch in ein anderes Licht rücken – ins Licht der tragischen Weltbetrachtung. Und dieses Licht – Überraschung! – leuchtete hell in der alten Welt. Ganz klar: Ein alter Grieche wäre nicht auf die Idee gekommen, in Zidanes »Ausraster« (wie man so sagt) etwas Gewolltes zu sehen – etwas, für das er geradestehen und für das man ihn zur Verantwortung ziehen müsse. Für ihn wäre klar gewesen: Ein Dämon ist in ihn gefahren! Vielleicht der göttliche Geist des gehörnten Pan oder eines bocksfüßigen Satyrn aus dem wahnsinnigen Gefolge des Dionysos (was jedenfalls gut zu seiner wahnsinnigen Spielweise gepasst hätte). Und folglich hätte unser Grieche sich jedes moralischen Urteils enthalten. Für ihn wäre klar gewesen: Das ist okay – denn auch hier sind Götter! Er hätte Zidanes »Tätlichkeit« als Ausbruch einer gottdurchwirkten Lebendigkeit gedeutet und deshalb »Ja!« zu ihm gesagt. Dass der Platzverweis sein musste, hätte nicht zur Diskussion gestanden – denn Verstöße gegen die Spielregeln wurden auch im alten Hellas geahndet; aber Zidane wäre ihm nie zum Buhmann geworden.
Wer Fußball, die Welt, sich selbst – sogar Gott – mit den Augen der Tragik sieht, weiß, dass es möglich ist, trotzdem »Ja!« zum Leben zu sagen; trotzdem das Leben gutzuheißen oder es doch wenigstens gut sein lassen zu können; sich trotzdem mit sich und der Welt zu versöhnen. Und er weiß auch, wie heilsam das ist, weil nur so ein Leben in Harmonie möglich wird: weil es nur dann möglich ist, wenn es uns gelingt, den Fesseln des moralischen Urteilens zu entschlüpfen und das eine göttliche Leben auch dort zu erkennen, wo die Schatten unserer Verneinung es bislang unserem Blick entzogen hatten.
Der Ort, an dem der tragische Blick eingeübt werden konnte, war in der alten Welt das Theater. Und das Theater war – wundert Sie’s noch? – eine Kultstätte des Dionysos. Zu den »Großen Dionysien« brachten Aischylos, Sophokles oder Euripides im Athener Dionysos-Theater ihre Tragödien zur Aufführung und erzählten darin von den unentwirrbaren Dilemmata des Lebens, vom Aufeinanderprallen konkurrierender Welten und deren Ordnungen, von Menschen und Helden, die bei all ihrer Geisteskraft doch immer auch Spielbälle der Götter waren. Da zeigte sich, mit anderen Worten, das Leben in seiner ganzen inneren Widersprüchlichkeit – da brach es aus allen dionysisch-wahnsinnigen Abgründen der Seele heraus und leuchtete doch im milden Goldglanz apollinischer Schönheit; so dass die Zuschauer »Ja!« sagen konnten: zu sich, zum Leben, den Göttern und der Welt. Eine Einübung in die hellenische Lebenskunst, die aus Dionysos und Apollon gemischt war, ein Sich-Ausliefern an die Schrecknisse und Fährnisse des Lebens, das zuletzt aber nur dazu führen sollte, auch diese in ihrer Wirklichkeit anzuerkennen und Frieden mit ihnen zu machen.
Es war – nach Kenntnisstand der modernen Psychologie und Psychotherapie – ein zutiefst therapeutisches Geschehen, das sich da in den alten Theatern zutrug: ein Geschehen, bei dem die konkurrierenden, abgespaltenen, verdrängten und verschatteten Aspekte des eigenen Lebens – der eigenen Seele – verdichtet zu Göttern, Helden und Dämonen ins schöne Licht eines apollinischen Arrangements gerückt wurden und auf diese Weise integriert, bejaht und gutgeheißen werden konnten. So konnten im Zusammenspiel von Dionysos und Apollon – von entfesseltem Chaos und sinnstiftendem Licht – die Seelen der Menschen geheilt werden; so konnten sie eingestimmt werden auf die in sich so widersprüchlich-spannungsvolle Harmonie des Lebens, um mit ihr in Resonanz schwingend das große »Ja!« zu erfahren.
So jedenfalls deutete Nietzsche die antike Tragödie. Und mir scheint, dass er damit ziemlich richtig lag. Für ihn war klar: Die Griechen scheuten sich nicht vor den dunklen Seiten des Lebens. Leiden war ihnen nicht etwas, das überwunden werden muss oder überwunden werden kann, wie es in Nietzsches Augen die großen Religionen wie Buddhismus und Christentum in Aussicht stellen; sondern Leiden war ihnen eine selbstverständliche Erfahrung, die etwas mit dem dionysischen Mysterium zu tun hatte, dass alles einem ewigen Fluss und Wandel unterworfen ist; dass
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