Und Nietzsche lachte
das Leid von Zerstörung und Tod mit der Freude von Schaffen und Zeugung verschwistert ist. Die Griechen, so Nietzsche, waren deshalb ein »unendlich sensibles, für das Leiden so glänzend befähigtes Volk«, das nur dank des Kunstgriffs der Tragödie das Leben ertragen konnte – dank der Tragödie, in der ihnen das Leben »von einer höheren Glorie umflossen in seinen Göttern offenbart« wurde.
Doch war diese Glorie – dieser apollinische Lichtglanz des Sinns, mit dem wir es nun schon mehrfach zu tun hatten – in Nietzsches Augen ein Kunstprodukt. »Um leben zu können, mussten die Griechen diese Götter, aus tiefster Nötigung, schaffen«, behauptet er in seiner Abhandlung über Die Geburt der Tragödie aus dem Geiste der Musik . Die apollinische Ordnung der Dinge, die Aureole der Bejahbarkeit, mit der jener Gott das dionysische Chaos verklärte, ist künstlicher Schein – ein genialer, aber gleichwohl doch unwahrhaftiger Kunstgriff, mit dem sich die Griechen, so Nietzsche, über die Absurdität dieser Welt hinwegtäuschten; und der ihm deshalb überaus fragwürdig erschien. Dionysos und Apollon – das war ihm ein »Kampf der Wahrheit gegen die Kunst« oder besser: »der Wahrheit gegen die gleißnerische Schönheit« des Apollinischen. Am Ende war es ihm – Nietzsche – darum zu tun, diesen Kampf zu Gunsten des Dionysos zu entscheiden: dem wilden, rohen, chaotischen Leben gegen seine apollinische Harmonisierung, Ordnung und Urbanisierung zum Durchbruch zu verhelfen. Deswegen stilisierte er sich zum »Jünger des Dionysos« und erklärte seinen Zarathustra – diesen »dionysischen Unhold« – zum »Fürsprecher des Lebens«, zum »Fürsprecher des Leidens«. Deshalb beflügelte sein Denken eine moderne Kunst, die nicht mehr schön, aber gnadenlos wahr sein wollte, und mit entfesselter dionysischer Gewalt alles Gestalthafte, Harmonische, traditionell Schöne auflöste oder in Stücke klopfte. Und deshalb gelang es ihm – tragischerweise – am Ende gerade nicht, die von ihm so großartig beschriebene und zu Recht gefeierte tragische Sicht zu neuem Leben zu erwecken.
Denn tragisch kann nur in die Welt blicken, wer die sinnvollen Ordnungen und Gestalten, die sinnvollen Bedeutungen und Lebensentwürfe nun gerade nicht für reine Kunstprodukte menschlichen Schaffens und Wollens hält – sondern wer darin das Wirken und Walten des Göttlichen, der Weltseele oder wie auch immer sieht: eine objektive Realität, ein Grundprinzip des Lebens, das von sich aus darauf angelegt ist, über dem Abgrund des Chaos immer aufs Neue Sinn, Schönheit und Bejahbarkeit zu generieren. So dass wir mit Recht und aus tiefster Wahrheit heraus »Ja!« zum Leben sagen können – »Ja« zum Leben, das immer aufs Neue seine Schönheit offenbart und immer aufs Neue sein schreckliches und erschütterndes Gesicht zeigt. Weil seine ewige und absolute Göttlichkeit weder allein in seiner schönen, wohlproportionierten apollinischen Ordnung gründet, noch allein in seinem chaotischen, pulsierenden dionysischen Rausch; sondern es gründet allein in jenem in spannungsvoller Harmonie gehaltenen Mit- und Ineinander beider Kräfte – in diesem paradoxen Miteinander, auf das sich geistig und emotional einzustimmen bedeutet, eine tragische Weltsicht auszubilden. Dass dies auch heute noch möglich ist, beweist ein wunderschönes Gedicht des zeitgenössischen amerikanischen Dichters Brian Andreas: » She said she usually cried at least once each day not because she was sad, but because the world was so beautiful & life was so short.«
Das ist tragisch gefühlt und darin – bei all seiner Kürze – groß. Und ungewöhnlich. Denn eine tragische Weltsicht ist heute alles andere als selbstverständlich. Wir leben mehrheitlich in einer Empörungskultur, die sich darin gefällt, den moralischen Stab über alle möglichen »Missetäter« zu brechen; die politische Gegner oder Andersgläubige nicht leben lassen will. Und die nicht mehr weiß, dass es sehr wohl möglich ist, Taten, Situationen und Zustände entschieden abzulehnen, gleichwohl aber anzuerkennen, dass sich auch in ihnen dieses eine, große, sinnvolle und göttliche Leben bekundet, das uns in seltenen, heiteren Augenblicken so sieghaft entgegenjubelt. Wäre er in einem moralisch-empörten Denken gefangen gewesen, ich wette, Viktor Frankl hätte an diesem denkwürdigen Wintermorgen nicht »Ja!« zum Leben sagen können; trotzdem – trotz aller Ablehnung und Absurdität seiner Situation,
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