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...und noch ein Küsschen!

...und noch ein Küsschen!

Titel: ...und noch ein Küsschen! Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Roald Dahl
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sichtlich bekümmert, und ihre Stimme klang sehr verzweifelt.
    Der Junge band seine Hand vom Tisch los. Das englische Mädchen und ich standen neben ihm und schwiegen.
    «Er ist eine öffentliche Gefahr», erklärte die Frau. «Dort, wo wir wohnen, hat er allen möglichen Leuten insgesamt siebenundvierzig Finger abgenommen, und er hat elf Wagen verloren. Schließlich drohte man, ihn in eine Anstalt zu bringen. Deswegen bin ich mit ihm hierhergekommen.»
    «Wir haben nur kleine Wette gemacht», murmelte der Mann vom Bett her.
    «Hat er Ihnen einen Wagen versprochen?», fragte die Frau.
    «Ja», antwortete der Junge. «Einen Cadillac.»
    «Er hat keinen Wagen. Der Cadillac gehört mir. Und das ist ja das Schlimmste», fügte sie hinzu, «dass er mit Ihnen wettet, obgleich er gar nichts zum Wetten hat. Ich schäme mich, und es tut mir so schrecklich leid.» Sie schien eine sehr nette Frau zu sein.
    «Nun ja», sagte ich, «hier ist dann also Ihr Wagenschlüssel.» Ich legte ihn auf den Tisch.
    «Wir haben nur kleine Wette gemacht», murmelte der Mann.
    «Er hat überhaupt nichts zum Wetten», wiederholte die Frau. «Er hat nichts mehr auf der Welt. Gar nichts. Weil ich ihm nämlich schon längst alles abgewonnen habe. Es dauerte lange, sehr lange, und es war ein hartes Stück Arbeit, aber schließlich habe ich ihm alles abgewonnen.» Sie blickte den Jungen an und lächelte – ein leises trauriges Lächeln. Dann kam sie näher und streckte die Hand aus, um den Schlüssel vom Tisch zu nehmen.
    Ich sehe sie jetzt noch vor mir, diese Hand; sie hatte nur einen Finger und den Daumen.

Der Soldat
    Es war eine jener schwarzen Nächte, in denen er zu wissen glaubte, wie einem Blinden zumute ist. Nichts war zu erkennen, nicht einmal die Umrisse der Bäume hoben sich vom Himmel ab.
    Aus der Dunkelheit drangen leise Geräusche an sein Ohr: Ein Rascheln in der Hecke, das Schnauben eines Pferdes irgendwo auf dem Feld, ein dumpfer Hufschlag, als das Tier den Fuß bewegte, und einmal hörte er, wie ein Vogel dicht über ihn hinwegstrich.
    «Jock», sagte er laut. «Wir gehen nach Hause.»
    Er machte kehrt und ging zurück, den leicht ansteigenden Pfad hinauf. Der Hund zerrte an der Leine und zeigte ihm in der Dunkelheit den Weg.
    Es muss fast Mitternacht sein, dachte er. Das hieß, dass es bald morgen sein würde. Morgen war schlechter als heute. Morgen war am allerschlechtesten, weil es heute werden würde – und heute war jetzt.
    Der heutige Tag war nicht gut gewesen, besonders wegen der Sache mit dem Splitter.
    Hör auf, sagte er sich. Es hat keinen Sinn, daran zu denken. Das nützt überhaupt nichts. Denk zur Abwechslung an etwas anderes. Weißt du, man kann sich von einem gefährlichen Gedanken befreien, wenn man ihn durch einen anderen ersetzt. Denk an schöne Tage zurück. Die Sommerferien am Meer. Weißer Sand und rote Eimer und Garnelennetze; schlüpfrige, von Seetang überzogene Felsen und kleine, klare Tümpel; Seeanemonen, Schnecken, Muscheln und manchmal, tief unten in dem schönen grünen Wasser schwebend, eine graue durchsichtige Garnele.
    Aber wie
konnte
ihm der Splitter in die Fußsohle gedrungen sein, ohne dass er es gefühlt hatte?
    Es ist nicht wichtig. Weißt du noch, wie du am Strand bunte Muschelschalen gesucht hast? Jede von ihnen war so schön und vollkommen, dass du sie auf dem Heimweg wie ein Kleinod behutsam in der Hand trugst. Und die kleinen orangefarbenen Kammmuscheln, die perlmutternen Austernschalen, die smaragdgrünen Glasstückchen, ein lebender Einsiedlerkrebs, eine Herzmuschel, der Stachelschwanz eines Rochens und einmal – einmal nur, aber unvergesslich – der vom Meer blankgewaschene Kiefer eines Menschen mit Zähnen darin, weiß und wunderbar zwischen den Muscheln und Steinen. O Mami, sieh mal, was ich gefunden habe! Sieh doch, Mami, sieh!
    Aber um auf den Splitter zurückzukommen – es war wirklich nicht nett von ihr gewesen, deswegen so ein Theater zu machen.
    «Was soll das heißen, du hast es nicht gemerkt?», hatte sie in verächtlichem Ton gefragt.
    «Ich habe es einfach nicht gemerkt, das ist alles.»
    «Erzähl mir bloß noch, dass du nicht merkst, wenn ich dir eine Nadel in den Fuß steche.»
    «Das habe ich nicht gesagt.»
    Und dann hatte sie ihm plötzlich die Nadel, mit der sie den Splitter entfernt hatte, in den Knöchel gestoßen. Er hatte nicht hingesehen und daher nichts gemerkt. Erst als sie entsetzt aufschrie, hatte er sich vorgebeugt, und da steckte die Nadel fast bis zur

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