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...und noch ein Küsschen!

...und noch ein Küsschen!

Titel: ...und noch ein Küsschen! Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Roald Dahl
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mich vor und sah ihn aufmerksam an, weil ich mir seine Reaktion nicht entgehen lassen wollte. «Mein Name ist Perkins   – William Perkins. Ich war neunzehnhundertsieben in Repton.»
    Die anderen im Wagen saßen sehr still. Ich spürte förmlich, dass sie die Ohren spitzten und der Dinge harrten, die da kommen sollten.
    «Freut mich, Sie kennenzulernen», erwiderte er und ließ die Zeitung sinken. «Ich heiße Fortescue   – Jocelyn Fortescue. Eton, neunzehnhundertsechzehn.»

Haut
    In jenem Jahr – 1946 – wollte der Winter nicht weichen. Obwohl es bereits April war, wehte ein eisiger Wind durch die Straßen der Stadt, und Schneewolken trieben am Himmel dahin.
    Der alte Mann, der Drioli hieß, schlurfte mühsam über den Bürgersteig der Rue de Rivoli. Ihn fror, er fühlte sich elend. Wie ein Igel hatte er sich in seinem schäbigen Mantel zusammengerollt, sodass nur die Augen und der obere Teil des Kopfes über dem hochgeschlagenen Kragen zu sehen waren.
    Die Tür eines Restaurants öffnete sich, und als Drioli den Duft von gebratenen Hähnchen roch, begann sein leerer Magen zu knurren. Er ging weiter und betrachtete ohne Interesse die Auslagen der Geschäfte   – Parfums, seidene Krawatten und Hemden. Juwelen, Porzellan, antike Möbel, Bücher in kostbaren Einbänden. Dann eine Gemäldegalerie: Er hatte schon immer eine Vorliebe für Gemäldegalerien gehabt. In dieser war nur ein einziges Bild im Fenster ausgestellt. Er blieb stehen, warf einen kurzen Blick darauf, wandte sich dann zum Gehen. Plötzlich stutzte er und schaute noch einmal hin. Eine leichte Unruhe überkam ihn, in seinem Gedächtnis regte es sich, die Erinnerung an etwas, was er irgendwo, irgendwann gesehen hatte, tauchte verschwommen auf. Er betrachtete das Bild genauer. Es war eine Landschaft, eine Gruppe von Bäumen, die sich weit, weit zur Seite bogen, als drücke ein gewaltiger Sturm sie zu Boden; darüber, wirbelnd und kreisend, der Himmel. Am Rahmen war ein kleines Schild angebracht: CHAIM SOUTINE (1894   –   1943)
    Drioli starrte das Bild an und überlegte, was ihm daranso bekannt vorkam. Verrücktes Bild, dachte er. Sehr seltsam und verrückt – aber ich mag es   … Chaim Soutine   … Soutine   … «Mein Gott!», rief er plötzlich. «Das ist ja mein kleiner Kalmück! Tatsächlich, mein kleiner Kalmück, und sein Bild ist in der besten Kunsthandlung von Paris ausgestellt!»
    Der alte Mann presste das Gesicht an die Scheibe. Er erinnerte sich an den Jungen – o ja, ganz deutlich erinnerte er sich an ihn. Aber wann war es gewesen? Und wo? Das ließ sich nicht so leicht herausfinden. Es war sehr lange her. Wie lange? Zwanzig – nein, eher dreißig Jahre, nicht wahr? Augenblick mal   … Ja, es war ein Jahr vor dem Krieg gewesen, vor dem ersten Krieg. 1913 also. Und dieser Soutine, dieser hässliche kleine Kalmück, ein mürrischer, verschlossener Mensch   – Drioli hatte ihn gern gehabt, fast geliebt, und zwar, wenn er’s recht bedachte nur deshalb, weil der Bursche malen konnte.
    Und wie er malen konnte! Die Erinnerungen nahmen jetzt langsam Gestalt an – die Straße, die lange Reihe der Mülleimer, der widerliche Gestank, die braunen Katzen, die graziös über den Unrat hinwegschritten, und dann die Frauen, die schwitzenden dicken Frauen auf den Haustürtreppen. Dort saßen sie, die Füße auf dem Kopfsteinpflaster der Straße. Welcher Straße? Wo hatte der Junge gewohnt?
    Richtig, in der Cité Falguière! Der alte Mann nickte mehrmals mit dem Kopf, froh, dass ihm der Name eingefallen war. Und nun erinnerte er sich auch an das Atelier mit dem einzigen Stuhl und der schäbigen roten Couch, die dem Jungen als Bett diente, an die Saufgelage, den billigen Weißwein, die schrecklichen Streitereien, und dazwischen tauchte immer wieder das finstere, verbitterte Gesicht des Jungen auf, der über seiner Arbeit brütete.
    Seltsam, wie mühelos ihm jetzt alles ins Gedächtnis zurückkehrte, wie jede kleine Begebenheit, deren er sich entsann, eine andere nach sich zog.
    Zum Beispiel die Sache mit der Tätowierung. Wirklich, so etwas Verrücktes war noch nie da gewesen. Wie hatte es doch gleich angefangen? Ach ja – er war eines Tages zu Geld gekommen und hatte sehr viel Wein gekauft. Er sah sich noch in das Atelier treten, das Paket mit den Flaschen unter dem Arm – der Junge saß vor der Staffelei, und seine, Driolis, Frau stand ihm Modell.
    «Heute Abend wird gefeiert!», rief er. «Wir drei werden ein kleines Fest

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