...und noch ein Küsschen!
über dem Kamin hing. Ich hatte mich schon die ganze Zeit bemüht, es nicht anzusehen. Diesen fürchterlichen Schinken hatte, wie ich wusste, ein Mann gemalt, der zurzeit in London sehr in Mode war, ein recht mittelmäßiger Künstler namens John Royden. Es war ein lebensgroßes Porträt von Gladys, Lady Ponsonby, und der Maler hatte mit einer gewissen technischen Raffinesse den Eindruck erweckt, sie sei ein schlankes, hochgewachsenes und überaus reizvolles Geschöpf.
«Bezaubernd», sagte ich.
«Nicht wahr? Ich bin so froh, dass du es magst.»
«Wirklich entzückend.»
«Ich halte John Royden für ein Genie. Findest du nicht auch, dass er ein Genie ist, Lionel?»
«Hm – das geht vielleicht ein bisschen zu weit.»
«Du meinst, man könnte das noch nicht so genau wissen?»
«Ganz recht.»
«Nun, mein Lieber, dann höre und staune: Royden ist jetzt so gefragt, dass er nicht im Traum daran denkt, jemanden für weniger als tausend Guineas zu malen!»
«Tatsächlich?»
«O ja! Und die Leute laufen ihm das Haus ein, laufen ihm buchstäblich das Haus ein, damit er sie malt.»
«Höchst interessant.»
«Sieh dir dagegen deinen Mr. Cézanne an, oder wie er heißt. Ich wette,
der
hat zeit seines Lebens nicht so viel Geld verdient.»
«Nie.»
«Und
der
war ein Genie?»
«Könnte man sagen – ja.»
«Dann ist Royden auch eines», entschied sie und setzte sich wieder neben mich. «Das Geld beweist es.»
Wir schwiegen eine Weile. Gladys nippte an dem Cognac, und ihre Hand zitterte dabei so stark, dass der Rand des Glases mehrmals an die Unterlippe stieß. Ich beobachtete sie, und das spürte sie wohl, denn sie blickte mich, ohne den Kopf zu wenden, misstrauisch von der Seite an. «Einen Penny für deine Gedanken.»
Wenn es eine Redewendung gibt, die ich auf den Tod nicht ausstehen kann, dann ist es diese. Sie erzeugt einen physischen Schmerz in meiner Brust, und ich fange an zu husten.
«Na los, Lionel. Einen Penny …»
Ich schüttelte den Kopf, außerstande zu antworten. Sie wandte sich mit einer jähen Bewegung ab und stellte das Cognacglas auf den kleinen Tisch zu ihrer Linken. Irgendetwas in ihrem Verhalten deutete an, dass sie sich – ich weiß nicht, warum – zurückgestoßen fühlte und nun zum Angriff rüstete. Ich wartete voller Unbehagen, aber sie schwieg, und da ich nicht wusste, was ich sagen sollte, machte ich viele Umstände mit meiner Zigarre, betrachtete aufmerksam die Asche und blies den Rauch langsam gegen die Decke. Gladys rührte sich nicht. Diese Dame hatte jetzt irgendetwas an sich, was mir nicht sehr gefiel,etwas Boshaftes, Lauerndes. Am liebsten wäre ich aufgestanden und hätte mich schleunigst empfohlen. Als sie mich endlich wieder ansah, funkelte ein listiges Lächeln in ihren kleinen, in Fett gebetteten Augen, aber der Mund – ach, genau wie das Maul eines Karpfens – blieb völlig unbewegt.
«Lionel, ich möchte dir ein Geheimnis anvertrauen.»
«Wirklich, Gladys, ich
muss
nach Hause.»
«Hab keine Angst, Lionel, ich werde dich nicht in Verlegenheit bringen. Du siehst auf einmal so ängstlich aus.»
«Für mich haben Geheimnisse etwas Bedrückendes.»
«Ich nahm an», sagte sie, «dass es dich interessieren würde, weil du doch so ein großer Kunstkenner bist.»
Gladys saß ganz still, nur ihre Finger bewegten sich unaufhörlich. Sie drehte sie immer wieder umeinander, sodass es aussah, als ringelten sich kleine weiße Schlangen in ihrem Schoß.
«Bist du nicht neugierig auf mein Geheimnis, Lionel?»
«Doch, doch. Aber weißt du, es ist schon so schrecklich spät …»
«Dies ist wahrscheinlich das bestgehütete Geheimnis in London. Ein weibliches Geheimnis. Alles in allem ist es nur – na, sagen wir, dreißig – oder vierzig Frauen bekannt. Und keinem einzigen Mann. Außer ihm natürlich – John Royden.»
Ich wollte sie nicht noch ermutigen, deshalb hielt ich den Mund.
«Aber zuerst musst du versprechen –
versprechen
, dass du es keiner Menschenseele weitererzählst.»
«Du meine Güte!»
«
Versprichst
du mir das, Lionel?»
«Na schön, Gladys, ich verspreche es.»
«Gut! Also hör zu, » Sie griff nach dem Cognacglas und lehnte sich in ihrer Sofaecke bequem zurück. «Du weißt doch, dass John Royden nur Frauen malt?»
«Das ist mir neu.»
«Und immer sind es Ganzporträts, entweder stehend oder sitzend – wie meines da. Sieh es dir einmal genau an, Lionel. Fällt dir nicht auf, wie schön das Kleid gemalt ist?»
«Hm …»
«Bitte,
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