Und plotzlich ist es Gluck
briefmarkengroße Brust, und ich zucke zusammen, stelle mir vor, wie kalt es sich anfühlen muss. Er misst ihren Blutdruck, ihre Temperatur, untersucht jeden Zentimeter ihres Körpers. Es dauert ewig. Zumindest kommt es mir so vor. John und Red sind aufgewacht und sitzen angespannt auf ihren Stühlen. Sie wagen es nicht, zu sprechen, zu atmen, sich zu bewegen. Sie warten ab, wie ich.
Der Arzt nickt und richtet sich auf, zieht die Hand aus dem Bullauge, ohne den Rand zu streifen. Er hängt sich das Stethoskop um den Hals und kritzelt etwas auf sein Klemmbrett. Ich betrachte prüfend sein Gesicht, registriere den Hauch eines Lächelns. Er schreibt zügig, was ich ebenfalls als positives Zeichen interpretiere. Er setzt einen Punkt auf ein i und einen weiteren hinter das letzte Wort des Satzes, den er gerade aufgeschrieben hat.
Er dreht sich zu mir um. »Die Vitalparameter sind stabil. «
»Stabil genug, um sie nicht mehr künstlich zu beatmen? « Meine Stimme klingt heiser.
Er überlegt, ehe er antwortet, sucht nach den richtigen Worten. »Ich glaube, wir könnten versuchen, sie zu extubieren«, sagt er, »aber es ist unmöglich, abzuschätzen, wie sie reagieren wird. Es könnte sein, dass wir sie gleich wieder an die Maschine hängen müssen. Wir müssen es einfach ausprobieren.« Er sieht mich an, um sich zu versichern, dass ich verstanden habe, was nicht der Fall ist. Mir kommt das alles so vage und unkalkulierbar vor. Aber so läuft das hier eben. Wir können nichts weiter tun, als es auszuprobieren.
John und Red gesellen sich zu mir an den Inkubator, während der Arzt auf der anderen Seite die Hände hineinschiebt. Ich schließe die Augen und warte ab. Ich kann nicht hinsehen. Red nimmt meine Hand und umklammert sie. Ich höre, wie John versucht, seine Atmung zu kontrollieren, ich höre den Arzt reden, ganz leise, als wollte er Ellen nicht stören. »So ist’s gut«, höre ich ihn sagen. »Ganz vorsichtig jetzt … Noch ein Stückchen … Gleich haben wir’s.«
Und dann höre ich es, hauchzart wie das Miauen eines einen Tag alten Kätzchens. Ich öffne die Augen. Andrea hat es auch gehört, denn sie lächelt und nickt und sieht auf Ellen hinunter, als hätte sie soeben ein Wunder vollbracht. Hat sie auch. Das war ihr allererster Schrei.
»Und?«, frage ich.
Andrea kommt einen Schritt auf mich zu und nickt. »Sie atmet selbstständig, Scarlett«, sagt sie, und ich sehe mein Gesicht in ihren Augen gespiegelt. Es ist das Gesicht einer Frau, die alles hat, was sie sich je gewünscht hat. Ich erkenne mich kaum wieder.
Ich weiß, ich sollte jetzt unzählige Fragen stellen, aber stattdessen lege ich die Arme um Andrea und drücke sie kräftig an mich. Erst steht sie nur steif da, ist wohl überrascht
von meiner ungestümen Reaktion, doch dann umarmt sie mich ebenfalls, und ich lache und höre auch John und Red lachen, ganz verhalten, wie es sich in einer Intensivstation gehört, aber sie lachen. Und als ich Andrea loslasse, fühlt es sich an, als hätte ich eine andere Welt betreten.
»Sie hat noch einiges vor sich«, warnt uns der Arzt mit besorgter Miene und weicht einen Schritt zurück. Wahrscheinlich, weil er fürchtet, ich könnte ihm als Nächstes um den Hals fallen. »Sie leidet noch etwas unter Atemnot. Wir werden ihr über eine Nasenkanüle noch eine Weile supplementären Sauerstoff zuführen. Aber …« – er lächelt vorsichtig – »sie muss nicht mehr künstlich beatmet werden, und das ist ein riesiger Fortschritt.«
Ein riesiger Fortschritt. Ich bin überwältigt von Gefühlen. Stolz ist eines davon. Ellen hat einen riesigen Fortschritt gemacht, dabei sollte sie laut Plan noch gar nicht geboren sein. Es kommt mir so vor, als wäre sie schon immer da gewesen. Ich kann mich jedenfalls nicht erinnern, wie die Welt ausgesehen hat, bevor sie geboren wurde.
58
»Ich habe ein Geschenk für dich«, verkündet Declan und versucht, die bewundernden Blicke zu ignorieren, die ihm die Schwestern und Patienten und sogar einige der Ärzte zuwerfen, als er durch die Station marschiert. Ich werde mich nie daran gewöhnen, dass er so angestarrt wird. Für mich ist er einfach bloß Declan, mein Vater, der dringend einen Haarschnitt braucht und sich ständig suchend umsieht, als hätte er etwas verloren. Ein alter Säufer, verwittert und verblasst wie die Lieblingsjeans, von der man sich einfach nicht trennen kann. In letzter Zeit allerdings ist er irgendwie anders. Er wirkt wacher, lebhafter, weniger
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