Und plotzlich ist es Gluck
ihrem Daumen, als würde sie mir voll und ganz vertrauen. Ich bin mir selten weniger vertrauenswürdig vorgekommen. Ich habe das Gefühl, sie bisher nur im Stich gelassen zu haben.
»Scarlett?« Der Arzt steht vor mir, den Kopf schief gelegt. John und Red sitzen rechts und links von mir. John hat die letzte halbe Stunde damit zugebracht, sich via Internet über die Verwendung von Beatmungsgeräten bei Frühgeborenen zu informieren. Er hat mit Begriffen wie »Endotrachealschlauch« und »Überdruckbeatmung« und »Hochfrequenzbeatmung« um sich geworfen. Hat mir ihre Funktionsweise beschrieben, Statistiken zitiert, von Zeitrahmen und möglichen Folgen gesprochen. Das ist seine Art, mit der Situation umzugehen. Ich habe genickt, ohne ihm zuzuhören, habe einfach die flache Hand an Ellens Inkubator gedrückt, darauf bedacht, die Verbindung nicht abbrechen zu lassen. Red sitzt schweigend neben Ellen. Seine Anwesenheit wirkt zuverlässig, wie eine Mauer, an die man sich anlehnen kann.
»Scarlett?«, fragt der Arzt erneut, eine Spur ungeduldig diesmal.
Ich hebe den Kopf.
»Also«, sagt er. »Die gute Nachricht ist: Alle Untersuchungsergebnisse waren in Ordnung.«
»Und die schlechte?« Ich kann ihm nicht ins Gesicht sehen. Ich blicke zu Ellen, dann schließe ich die Augen und warte auf seine Antwort.
»Es gibt eigentlich keine schlechte Nachricht.« Ich höre, wie er von einem Fuß auf den anderen tritt. Ich beiße mir auf die Unterlippe. »Wir werden sie noch eine Weile künstlich beatmen.«
»Sie meinen also, sie kann noch nicht allein atmen?«, sage ich.
Er nickt.
»Noch nicht.« Andrea schenkt mir ihr wunderbar warmherziges Lächeln.
»Und wie lange wird sie noch beatmet?«, frage ich.
Red legt mir eine Hand auf die Schulter. Sie zittert.
»Schwer zu sagen«, erwidert der Arzt. »Wir müssen einfach abwarten.«
»Einfach abwarten?« Wie soll ich das aushalten? Ich schüttle den Kopf und sehe ihn an. »Es muss doch noch irgendetwas geben, das wir tun können.«
»Im Augenblick nicht«, sagt der Arzt und wendet sich zum Gehen.
»Bei einigen Babys dauert es nicht allzu lange«, schaltet sich Andrea ein. »Manchmal bloß vierundzwanzig Stunden. «
Der Arzt wirft ihr einen warnenden Blick zu. »Manchmal aber auch bedeutend länger.« Ich weiß, er tut nur seine Pflicht, versucht, zu verhindern, dass ich mir allzu große Hoffnungen mache. Aber ich klammere mich an Andreas Worte. Vierundzwanzig Stunden, das klingt viel besser als »einfach abwarten«. Vierundzwanzig Stunden, das ist auszuhalten. Wir versammeln uns um den Inkubator und legen jeweils eine Hand an das warme Plexiglas.
Andrea überprüft sämtliche Geräte. Ich lasse sie nicht
aus den Augen. Ich finde ihr Nicken und Lächeln und ihre Sanftheit tröstlich. Sie lächelt uns ein letztes Mal zu, dann verschwindet sie lautlos, wie es ihre Art ist. Wir lauschen dem leisen Brummen der Bildschirme, konzentrieren uns auf die Lämpchen und Anzeigen. Wir müssen nicht gegen den Schlaf ankämpfen, denn an Schlaf ist nicht zu denken. Vierundzwanzig Stunden. Wir stellen uns darauf ein. Wir warten.
56
Man erfährt eine Menge über einen Menschen, wenn man ihn lange genug beobachtet. Vierundzwanzig Stunden sind eine lange Zeit. Sekunden werden zu Minuten, Minuten zu Stunden. Ich kann mich an nichts erinnern, das vor diesen vierundzwanzig Stunden war, und ich kann mir nicht vorstellen, was danach kommt. Ich betrachte Ellen. Sie schläft. Manchmal streckt sie die Arme und Beine von sich, einschließlich der Finger und Zehen. Sie scheint zu lächeln, wenn sie das tut, als würde sie es genießen. Ich tue dasselbe, morgens, wenn ein neuer Tag anbricht, ganz egal, ob ich geschlafen habe oder nicht.
Sie legt sich gern die Hand auf das Gesicht. Versucht gelegentlich, daran zu saugen. Meistens berührt sie einfach ihre Wange oder ihr Ohr. Um sich selbst Trost zu spenden, wie Andrea behauptet. Es ist ein gutes Zeichen, sagt sie.
Ich sehe den Puls an Ellens Handgelenk, an ihrem Rist.
Ich schaue auf die Uhr, die an der Wand hängt. Sechs Stunden haben wir schon hinter uns. Ich versuche, nicht darüber nachzudenken. Stattdessen erstelle ich im Geiste eine Liste der Orte, die ich mit Ellen besuchen werde: den Zoo, das Pantomimentheater, Disneyland, Maud’s Eiscafé in Howth. Dollymound Strand. St Anne’s Park. Im Garten in Clontarf ist Platz für eine Schaukel, vielleicht sogar für eine Wippe und einen Sandkasten.
Ich bete auch, obwohl ich diesbezüglich etwas
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