Und Rache sollst du nehmen - Thriller
kein Ende. Ich versuchte, gleichzeitig zu zählen, meine Atmung zu regulieren und meine Nerven zu beruhigen.
Erst als ich bei der Achtzehn angelangt war, hatte ich mich wieder einigermaßen im Griff. Ein kahler Geschäftsmann mit einem Aktenkoffer unter dem Arm. Er bemerkte meinen Blick und starrte mich wütend an. Das machte nichts, er würde nicht weiter darüber nachdenken.
Neunzehn und Zwanzig waren ein junges, Händchen
haltendes Paar. Mittlerweile war ich ganz ruhig. Er war groß mit hellbraunem Haar, sie war klein und strohblond. Mir ging es wieder gut. Die beiden kicherten und flüsterten miteinander.
Ich verlangsamte meinen Schritt und atmete aus. Und zählte weiter. Ich lief und zählte, zählte und lief. Als ich die Blythswood Street überquert hatte, war die Dreißig schon vorüber.
Menschen über Menschen. Lang konnte es nicht mehr dauern.
Ich hetzte durch die Mittvierziger, dann war länger Flaute, bevor mir die nächsten Leute über den Weg liefen. Mir fiel wieder mal auf, wie viele Bewohner unserer geliebten Stadt in einer von zwei Farben auftreten: aschgrau oder solariumsorange. Die Schicksalsgeprüften und die UV-Geprüften. In Glasgow gibt es alles, jede Herkunft, Größe und Form, und sie trieben immer weiter an mir vorbei. Ich versuchte, kurze gedankliche Skizzen von ihnen anzufertigen, aber wie sollte man die mehr oder weniger Gutsituierten von den Abgewrackten unterscheiden, die Protestanten von den Katholiken, die Asylanten von den Gotteskindern, den Polen vom Partick-Fan? Die Unterdrücker von den Unterdrückten, die Geschlagenen von den Schlägern, die verdienten Bürger von denen, die es verdient hätten?
Ich wusste es nicht, und es war mir egal. Vielleicht war es auch besser so.
Vorbei an der Schlange vor der Greggs-Filiale, vorbei am Paperino’s. Noch drei. Ich war nah dran, das spürte ich, und ich brannte darauf, es zu erfahren. Am liebsten
hätte ich die Augen gehoben und einen Blick in die Zukunft geworfen. Aber ich hielt mich zurück.
Auf die Vierundfünfzig traf ich an der Ecke der Douglas Street. Ein junger, bärtiger Kerl mit einer Tasche über der Schulter, der verblödet-selbstgefällig in die Welt blickte. Ein Student, ein Mitglied der überflüssigsten, verzogensten Idiotenbande des ganzen Planeten. Früher hätte er irgendeine Revolution geplant oder gegen die Besatzung des Irak protestiert, oder sich zumindest rührend um seine Cannabispflanzen gekümmert. Heute war so ein Typ wahrscheinlich auf dem Weg zum Finanzberater, oder nach Hause, um Neighbours zu schauen. Oh ja, der wäre mir recht gewesen.
Aber er war eben nur Nummer Vierundfünfzig.
Mein Herz hämmerte. Ruhig bleiben, sagte ich mir. Die Sechsundfünfzig würde kommen. Nichts konnte es stoppen, und durch die Grübelei konnte ich es auch nicht beschleunigen.
Die Fünfundfünfzig stellte sich als alte, sehr alte Chinesin heraus, so um die hundertzwanzig. Sie wirkte extrem klein, kleiner als eins fünfzig, aber da sie sich unglaublich krumm hielt, niedergedrückt von der Zeit und vom Regen, war es schwer zu sagen. Irgendetwas an ihr erinnerte mich an eine alte Nachbarin. Der Name fiel mir nicht mehr ein, aber ich konnte sowieso an kaum etwas anderes denken als an die nächste Person, die an mir vorbeigehen würde. Alles war möglich. Ich war erregt, mir war schlecht, ein bisschen Angst hatte ich auch. Mein Puls galoppierte.
Ich schleifte die Augen über den Asphalt, entdeckte
aber niemanden. Die nächsten drei, vier Meter waren leer. Dann tauchte ein Paar Schuhe auf. Kleine Schuhe.
Ich blickte auf und sah einen Jungen, vielleicht elf oder zwölf Jahre alt. Scheiße.
Er grinste verschmitzt unter einem blonden, verwuschelten Schopf hervor, während er die Sauchiehall Street entlangschlurfte und gelangweilt in die Schaufenster guckte. Nein.
Nein, nein, nein!
Offenbar träumte der Kleine gerade ein bisschen vor sich hin. Ein junger Kerl fern von allen Sorgen. Das T-Shirt hing ihm unter dem Pulli raus, wie es bei den Jungs gerade Mode war, dazu trug er ausgewaschene Jeans. Und obendrauf dieses listige, schielende Grinsen.
Die Regeln. Nummer Sechsundfünfzig.
Mir war kotzübel. Die Regeln. Meine Regeln.
Der Junge blickte neugierig auf. Wahrscheinlich hatte ich ihn direkt angestarrt, natürlich hatte ich das. Er ging weiter auf mich zu. Ich hoffte, betete, flehte, aber er wollte einfach nicht stehen bleiben. Gleich hatte er mich erreicht. Bleib stehen, verdammt, du musst stehen bleiben!
Zwei Schritte
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