Und Rache sollst du nehmen - Thriller
kleinen Finger der rechten Hand abzuschneiden und seine Leiche an einen anderen Ort zu schaffen. An einen Ort, wo man ihn finden würde.
»La vengeance est un plat qui se mange froid.«
Obwohl mir niemand zuhörte, sprach ich den Satz laut aus.
18
Erinnerungen sind wie Landminen. Man weiß nie, welche einem als Nächstes um die Ohren fliegt. Sie fallen über einen her, wenn man am wenigsten darauf gefasst ist. Einmal zog ich mir beim Rasieren die Klinge über die Wange, als plötzlich eine Erinnerung in meinen Kopf platzte.
Menorca. 1996. Sarah, wie sie mit dem größten Eis der Welt an einem Restauranttisch sitzt. Nur ihr riesiges Grinsen kann es noch damit aufnehmen. Sie hält sich für das glücklichste Mädchen der Welt, in ihrem hellgelben T-Shirt mit den knallig orangeroten Sonneneruptionen drauf, mit ihrem blonden Haar, das sie zu einem Pferdeschwanz gebunden hat. Ein bisschen Eiscreme tropft ihr aus dem Mund und kullert das Kinn hinunter, und sie lacht, bis sie sich fast in die Hosen macht. Alle drei lachen wir so laut, dass sich die Leute nach uns umdrehen.
Daran erinnerte ich mich, als ich mich im Spiegel anstarrte. Auf einmal wurde ich von dem Verlangen gepackt, den Rasierer in mein Gesicht zu bohren, die Klinge so tief in die Wange zu treiben und zu verdrehen, bis sie einen Klumpen Haut und Fleisch losgerissen hätte. Ich stand da und blickte mir in die Augen, während Hand und Hirn um die Kontrolle über den Rasierer rangen.
Ich tat es nicht.
Egal wie sehr ich mich dagegen wehrte, manchmal überrumpelte mich der Gedanke einfach. Sie wiederzusehen. Nicht länger zu warten. Die Initiative zu ergreifen. Sie einzuholen, bevor ich ihren Duft vergessen hatte. Bevor ich ihr Gesicht nicht mehr binnen Sekunden heraufbeschwören konnte.
In Filmen werden Flashbacks immer als rasche Abfolge von Lichtblitzen und Momentaufnahmen dargestellt, als jähe Erinnerungsschübe, die Schlag auf Schlag im Kopf explodieren. Ich hatte das immer für Schwachsinn gehalten, aber es läuft tatsächlich genau so ab. Jedenfalls bei mir.
Beim Autofahren, beim Reden, beim Gehen, beim Kauen, mitten im Satz – immer kann einen die Vergangenheit überfallen. Die Erinnerungen verlassen einen nie, sie halten sich nur in den Schatten und warten.
Manchmal musste ich regelrecht den Kopf schütteln, um sie aus meinem Hirn zu vertreiben. In diesen Momenten fühlte ich mich schuldig, weil ich sie nicht ertrug, weil ich den Schmerz nicht hinnahm wie ein richtiger Vater.
Ich hörte ihre Stimme. Nicht wie die Stimmen im Kopf eines Mörders, nicht wie bei den Schizos. Ich hörte sie einfach. Sie sprach Sätze für mich zu Ende, ab und zu gab sie mir Ratschläge, sagte mir, was ich tun sollte und was nicht. Oder sie alberte herum und lachte. Manchmal meinte sie auch, dass sie diesen Film oder jenes Gericht ganz toll fände. Dann nickte ich und antwortete: »Ich weiß. Ich weiß, mein Liebling.«
Die Schuldgefühle fielen mich genauso häufig an wie
die Erinnerungen, genauso wahllos und unberechenbar, genauso tödlich. Warum Schuldgefühle? Weil ich etwas getan hatte und etwas anderes nicht getan hatte. Und weil ich das größte Versprechen überhaupt gebrochen hatte, das Versprechen, das jeder Vater seinem Kind gibt: auf sein Kind aufzupassen. Es zu beschützen. Egal was passiert.
Wenn ich nachts wachlag, überlegte ich manchmal, was ich alles tun würde, um sie zurückzuholen – für immer oder auch nur für fünf Minuten. Zurück in diese Welt, selbst wenn sie nicht bei uns sein könnte. Was ich tun würde, um zu wissen, dass sie wieder lachte und herumlief, dass sie wuchs, lernte und spielte, lachte oder weinte. Ganz gleich, ob glücklich oder traurig, ob gute oder schlechte Zeiten. Was ich tun würde, um sie einfach nur zurückzuholen.
Die Antwort lautete: alles. Ich würde alles tun, und mehr.
Auch töten? Natürlich. Die Frage war nur: wie viele? Darauf hatte ich nur Antworten, die mir Angst machten.
Die dunkle Nacht und meine schwarze Seele waren seltsame und gefährliche Orte, um über derartige Dinge nachzudenken. Ich kann nicht genau sagen, wann ich dem Wahnsinn verfiel; vielleicht in einer dieser Nächte. Letztendlich lag es wohl an der Verzweiflung. Ich hätte alles versucht, alles getan, alles gedacht, auf alles gehofft.
In den Anfangstagen, den tiefschwarzen Tagen, hielt ich häufig die Luft an. Ich hatte mir eingeredet, dass ich nur die Augen schließen und für eine Minute nicht mehr atmen müsste – und wenn ich
Weitere Kostenlose Bücher