Und raus bist du: Kriminalroman (German Edition)
aber er zwang sich, weiter zuzuschauen. Die Kamera wanderte weiter zu der kleinen Linn. Aus der klaffenden Wunde in ihrem Hals rann immer noch Blut, in kleinen, dünnen Rinnsalen. Dann Tom. Der Kopf kaum noch am Rest des Körpers hängend.
Es ging nicht mehr, sein ganzer Körper rebellierte. Er erbrach sich in heftigen Krämpfen, schwitzte und fror zugleich. Dann wurde alles schwarz.
Ohne zu wissen, ob er Stunden oder nur Sekunden bewusstlos gewesen war, wurde er von Schlägen und Tritten geweckt.
»Du darfst jetzt nicht schlafen, du Scheißkerl. Du hast noch genug Zeit, um dich auszuruhen.«
Als er die Augen aufschlug, stand der Mann mit gespreizten Beinen über ihm und hielt die Videokamera in der Hand. Er trat ihm in den Bauch und gegen den Brustkorb. Bei jedem Tritt schlug sein Kopf gegen die Wand. Das summende Geräusch der Kamera verriet, dass er in seinem Elend auch noch gefilmt wurde.
»Erzähl jetzt, wie du meinen Brüdern das Leben genommen hast.«
Einar stöhnte matt.
»Ich weiß, dass du dir die Stimme kaputtgeschrien hast, aber du kannst gerne auch flüstern. Schau in die Kamera.«
Der Mann ging in die Hocke und hielt ihm die Kamera vors Gesicht. Einar holte tief Luft, und mit seinem funktionierenden Auge sah er direkt in die Linse. Zum ersten Mal in seinem Leben erzählte er dann die ganze Geschichte, wie er an einem schönen Maitag vor langer Zeit mit seiner geliebten Frau Blumen auf dem Balkon pflanzte, wie es an der Wohnungstür klingelte und alles, was danach passierte. Er sprach direkt aus seinem Herzen, ohne Umschweife und Beschönigungen, ließ kein Detail dieser verhängnisvollen Ereignisse aus. Ohne sich um den höhnischen Mann hinter der Kamera zu kümmern, schlug er die Tür zu seinem Inneren weit auf und erzählte nur für sich von dem, was niemals ausgesprochen worden war. Heiser flüsternd gab er Düfte und Gefühle wieder, Lächeln und Liebkosungen. Mit brüchiger Stimme beschrieb er alle Worte, Schreie und die große Schuld; die Schuld, die zwischen den Menschen hin und her sprang und sich gleichzeitig wie ein großer Richtblock über sie alle gelegt hatte.
Dann erzählte Einar Eriksson von dem Tag, an dem ein Engel zu ihm gekommen war; ein Engel in Gestalt einer einsamen Filipina mit zwei kleinen Kindern, die dankbar seine Hilfe und seine Fürsorge angenommen und damit seine schwere Bürde ein wenig erleichtert hatten. Er ersparte sich auch nicht die neue Schuld, die auf seine Schultern gelegt worden war, die Eigensucht, die ihn in das Leben dieser armen Menschen getrieben hatte und die Konsequenz seiner Handlungen: die Strafe, die er jetzt verbüßte.
Solange er seine Geschichte erzählte, saß der Mann vor ihm und dokumentierte sein Schicksal mit der leise summenden Kamera. Als er aufstand und ihm wortlos einen letzten Tritt in das zerstörte Gesicht verpasste, nahm Einar Eriksson ihn mit einer Freude und einem Gefühl der Befreiung entgegen, das er seit der Zeit vor dem schrecklichen Unfall nicht mehr empfunden hatte.
Als ihn der Mann mit einem zornigen Türknallen ein weiteres Mal blutend auf dem Holzboden des Schuppens zurückließ, schaute er ihm mit einem Lächeln hinterher.
*
Nachdem er die Inspektoren Edin und Möller noch einmal auf der Polizeiwache in Arboga besucht hatte, um die beiden Fotografien von Mikael Rydin einzuscannen und per Mail zu verschicken, setzte sich Sjöberg in den Wagen, um nach Stockholm zurückzufahren. Nach ein paar Minuten begann es zu schneien. Am Morgen hatte die Temperatur noch deutlich über null gelegen, aber jetzt zeigte das Display auf dem Armaturenbrett leichten Frost an. Mit einem Seufzer musste er konstatieren – er wusste nicht, zum wievielten Mal in diesem Jahr –, dass der Frühling immer noch auf sich warten ließ. Über Nebenstrecken erreichte er nach einer Weile die Autobahn, wo sich herausstellte, dass der Verkehr infolge des Schneefalls wesentlich langsamer floss, als er gehofft hatte.
Er zog das Telefon aus der Brusttasche seines Hemdes und wählte Sandéns Nummer.
»Hast du die Mail gesehen, die ich dir eben geschickt habe?«, fragte er.
»Nein, ich war bis über beide Ohren damit beschäftigt, Mikael Rydin ausfindig zu machen«, antwortete Sandén trocken.
»Ein Grund mehr, deine Mails zu lesen. Ich habe ein paar Bilder von ihm mitgeschickt. Dachte, das könnte die Arbeit erleichtern. Bist du in deinem Zimmer?«
»Auf dem Weg dorthin.«
»Das eine Foto ist drei Jahre alt. Das habe ich als Kuriosum mitgeschickt.
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