Und sie wunderten sich sehr
Grundrisse irgendwie passend gemacht für meine Tochter und mich. Vor einer Woche hat er zwischen Einkauf und Abendbrotvorbereitung gesagt: ›Ich ziehe aus.‹ Das schlechte Gewissen klopfte gleich nach der Freude und der Erleichterung an.
›Wird er es allein packen? Und so schnell? Noch vor den Weihnachtstagen?‹ –
›Auf jeden Fall! Alles andere wäre falsch und geheuchelt.‹
Die Antwort klingt immerhin plausibel.
Dies ist der Tag … danach … ›Waren wir doch zu schnell, haben wir doch zu wenig versucht, auf dem Boden |35| der letzten zehn Jahre zu stehen und zu gehen?‹ Ich stelle mir diese Frage immer wieder in unzähligen Varianten. Und immer wieder lande ich bei diesem einen Zweifel: ›Haben wir uns zu wenig Mühe gegeben?‹
Ich werde jetzt unsere Wohnküche umräumen – jetzt sofort, noch bevor die Weihnachtstage beginnen. Erst mal muss alles raus aus den Ecken. Kann doch wohl nicht wahr sein, dass man sich in einem Zimmer mit zwei großen Fenstern, einer Flügeltür zum Nebenraum und zwei Meter siebzig Raumhöhe beengt und zugemüllt fühlt.
Im Radio läuft nebenbei der sanft-weihnachtliche Dauerbeschuss, und es stört mich überhaupt nicht. Im Gegenteil. ›Dies ist der Tag …‹ – eine Zeile nur, noch und noch wiederholt, verziert und auf mehrere Stimmen verteilt. Ein gemischter Chor. Mit Musik kenne ich mich nicht so gut aus. ›Dies ist der Tag‹ – ein anderes Wort für Heute – vorausgesetzt, man meint es mit dem Heute ernst genug.
›Dies ist der Tag …‹ – es klingt so klassisch, nach Bach oder so. Ich halte einen Moment mit der Arbeit inne, um richtig hinzuhören. Verstehe ich noch mehr als diese vier Worte? Allein das Wort »fröhlich« scheint sich ja über mehrere Notenzeilen zu verteilen, so wie sie es im Radio singen.
›Dies ist der Tag‹ … Meine Tochter kommt ins Zimmer. Vom Verpacken der Geschenke hat sie rote Wangen. Wenn sie es wüsste, wäre es ihr bestimmt peinlich. Welcher Pubertierenden würde es nicht so gehen? Schon fast etwas vergnügt zieht sie mir am Pullover: ›Das haben die von Peter Licht.‹ –
›Wer?‹
›Na: Dies ist der Tag‹, schüttelt sie den Kopf, als müsste ich sofort wissen, was Sache ist …
›Peter Licht … Dies ist der Tag, an dem du zur Hölle fährst.‹
Ich weiß nicht, was ich zuerst sein soll: besorgt darüber, dass meine Tochter offenkundig die falschen Dinge hört, oder belustigt darüber, dass Bach und Kollegen irgendeinen Liedermacher von heute kopieren könnten.
|36| ›Er ist nicht irgendein Liedermacher! Seine Lieder können denken, Mama!‹
Die vielen Stimmen im Radio sind mit einem Mal fertig. Der Moderator scheint von dem plötzlichen Ende auch ein bisschen überrascht zu sein. Er sucht nach Worten, als er Telemann und dessen Werk abmoderiert. ›Dies ist der Tag, den der Herr macht. Eine Vertonung des 118. Psalms – zu Ostern und zu Weihnachten zu singen …‹
Telemann?
Der Name sagt meiner Tochter nichts, und mir auch nicht viel. Peter Licht wiederum sagt mir gar nichts, obwohl meine Tochter schwört, ich hätte es schon x-mal aus ihrem Zimmer hören können: ›Hallo Geld … hallo heile Welt … dies ist der Tag …‹ Nein, habe ich noch nicht gehört, zumindest nicht bewusst. Vielleicht wird es wirklich Zeit aufzuwachen, hinzuhören. Dies ist der Tag, der Tag danach … und das Christkind kommt einfach so.
Annahme verweigert
Maria bewegte all diese Worte
in ihrem Herzen.
Lukas 2,19
Sie ist auf dem Weg zum Briefkasten. Fester Schritt und dicke Schuhe sind ihr Markenzeichen. Das Fahrrad schiebt sie neben sich her. »Bei dem Schnee kann man eigentlich nicht mehr fahren …«, sagt sie und bleibt stehen. Sie ist Mutter von drei Kindern, und ihr gerade begonnenes fünftes Lebensjahrzehnt sieht man der sportlichen Frau nicht an. Die große Familie und weitläufige Verwandtschaft, verteilt auf der ganzen Welt, erwartet Weihnachtspost. Wir haben kaum Zeit, miteinander zu reden. Zu kalt und zugig ist es ohnehin, um länger stehenzubleiben. Viele werden ihre Post erhalten. Ein Brief an die jüngste Tochter ist nicht dabei. |37| Sie soll ein Paket erhalten, sagt die Mutter. Es ist ein weiterer Versuch, mit der Tochter Kontakt aufzunehmen. Und ich sehe das Achselzucken der Mutter: Ob das eigene Kind dieses Mal darauf reagiert?
Jetzt schiebt sie ihr Rad weiter. Die geschriebenen Briefe in der Hand und die ungeschriebenen, die sie im Herzen bewegt. Der ungeschriebene Brief liest sich etwa so:
Es
Weitere Kostenlose Bücher