Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Und so verlierst du sie

Und so verlierst du sie

Titel: Und so verlierst du sie Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Junot Díaz
Vom Netzwerk:
kalt wurden. Aus lauter Angst, verprügelt zu werden, wagte ich mich nicht weiter.
    Rafa lümmelte vor dem Fernseher herum.
    Hijo de la gran puta, sagte ich und setzte mich.
    Na, kalt geworden?
    Ich antwortete nicht. Wir sahen fern, bis ein Schneeball gegen die gläserne Terrassentür knallte und wir beide zusammenzuckten.
    Was war das?, wollte Mami in ihrem Zimmer wissen.
    Zwei weitere Schneebälle zerbarsten an der Scheibe. Ich spähte hinter dem Vorhang hervor und sah die beiden Geschwister, die sich hinter einem im Schnee vergrabenen Dodge versteckten.
    Nichts, Señora, antwortete Rafa. Das ist nur der Schnee.
    Lernt der Schnee da draußen etwa tanzen?
    Er fällt nur, sagte Rafa.
    Wir standen beide hinter dem Vorhang und sahen zu, wie der Bruder warf, schnell und hart, wie ein Pitcher beim Baseball.

    Jeden Tag kamen die Laster mit dem Abfall in unser Viertel gerollt. Die Müllkippe lag zwar drei Kilometer weiter, aber die Winterluft mit ihrer eigenen Dynamik trug die Geräusche und Gerüche ungedämpft zu uns. Wenn wir das Fenster öffneten, konnten wir hören und riechen, wie die Bulldozer den Müll in dicken, fauligen Schichten auf der Müllkippe verteilten. Über dem Hügel sahen wir Tausende Möwen, die ihre Kreise zogen.
    Glaubst du, dass da Kinder spielen?, fragte ich Rafa. Mutig standen wir auf der Veranda; jeden Moment konnte Papi auf den Parkplatz kommen und uns sehen.
    Ja, klar. Würdest du das nicht?
    Ich leckte mir die Lippen. Da finden sie bestimmt viel Zeug.
    Jede Menge, stimmte Rafa zu.
    In dieser Nacht träumte ich von unserer Heimat, ich träumte, wir wären nie weggegangen. Ich wachte auf, mein Hals tat weh, und ich war fiebrig. Ich wusch mir im Spülbecken das Gesicht, dann setzte ich mich an unser Fenster, während mein Bruder schlief, und beobachtete, wie Kiesel aus Eis vom Himmel fielen und auf den Autos und dem Schnee und dem Gehweg zu einem Panzer erstarrten. Eigentlich sollte man erst mit den Jahren die Fähigkeit verlieren, an neuen Orten einzuschlafen, aber ich konnte das nie. Das Haus hatte sich noch nicht ganz gesetzt, erst jetzt löste sich die gespannte Magie der frisch eingeschlagenen Nägel. Ich hörte Schritte im Wohnzimmer, und als ich nachsah, fand ich meine Mutter vor der Terrassentür stehen.
    Kannst du nicht schlafen?, fragte sie. Im grellen Licht der Halogenlampe wirkte ihr Gesicht glatt und vollkommen.
    Ich schüttelte den Kopf.
    Darin waren wir uns schon immer ähnlich, sagte sie. Es wird dir das Leben nicht erleichtern.
    Ich schlang meine Arme um ihre Taille. Allein am letzten Morgen hatten wir durch unsere Terrassentür drei Umzugswagen gesehen. Ich werde mal beten, dass es Dominikaner sind, hatte sie gesagt, das Gesicht gegen die Scheibe gelehnt, aber am Ende bekamen wir Puerto-Ricaner.
    Sie muss mich ins Bett gebracht haben, am nächsten Morgen wachte ich nämlich neben Rafa auf. Er schnarchte. Papi nebenan schnarchte auch, und etwas in mir sagte, ich sei auch kein leiser Schläfer.
    Am Ende des Monats überzogen die Bulldozer die Müllkippe mit einer Schicht weicher, gelber Erde, und die vertriebenen Möwen flogen in Schwärmen über die Neubausiedlung und kackten und zeterten, bis der erste neue Müll anrollte.

    Mein Bruder warf sich ins Zeug, um Lieblingssohn zu werden; bei allem anderen war er im Grunde wie immer, aber den Befehlen meines Vaters folgte Rafa mit einer Gewissenhaftigkeit, die er bei nichts anderem an den Tag legte. Normalerweise benahm sich mein Bruder wie eine Pottsau, aber im Haus meines Vaters hatte er sich in eine Art muchacho bueno verwandelt. Wenn Papi sagte, wir sollten drinnen bleiben, blieb Rafa drinnen. Es war, als hätte die Reise nach Amerika ihm den Biss herausgebrannt. Sehr bald würde er wieder zum Leben erwachen, noch schlimmer als zuvor, aber in diesen ersten Monaten war Rafa verstummt. Ich glaube, niemand hätte ihn wiedererkannt. Ich wollte auch von meinem Vater gemocht werden, aber mir war nicht nach Gehorsam; ich spielte draußen im Schnee, wenn auch nie lange und nie außer Sichtweite der Wohnung. Er wird dich erwischen, prophezeite Rafa mir. Ich merkte, dass mein Wagemut ihn unglücklich machte; er sah vom Fenster aus zu, wie ich Schnee zusammenpappte und mich in Schneewehen warf. Von den Gringos hielt ich mich fern. Wenn ich die Geschwister aus Apartment vier sah, hörte ich auf, herumzublödeln, und machte mich auf einen Überraschungsangriff gefasst. Eric winkte, seine Schwester winkte auch; ich winkte nicht zurück.

Weitere Kostenlose Bücher