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Und stehe auf von den Toten - Roman

Titel: Und stehe auf von den Toten - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Heyne
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ihr nicht zu entziehen. Fackeln loderten und Öllampen blakten. Zuweilen verpufften Faulgase in einer Leiche oder schien ein Bauch zu implodieren. Prospero erschrak, weil er ein zunächst dumpfes, dann flatschendes Geräusch gehört hatte, wie von einer gefüllten Schweineblase, die zu Boden fiel und dann zerplatzte. Er hoffte, dass es nicht das war, was er vermutete. Übelkeit stieg in ihm auf. Es war genau das, was er vermutet hatte.
Von der Leiche des Mädchens, das schon am längsten tot war, hatte sich der rechte Arm gelöst, war zu Boden gefallen und auf dem Stein aufgeplatzt. Auf dem Boden breitete sich eine weiße Masse aus, die einmal ein Arm gewesen war. Er kämpfte darum, sich nicht zu übergeben. Als Benjamin sich beeilte, den Knochen mit dem Fleischgallert möglichst vollständig wieder auf den Tisch zu bekommen, war es mit seiner Beherrschung vorbei. »Hinten, in der Ecke!«, rief ihm der Professor noch zu, aber es war schon zu spät. Er spuckte und spuckte, es kam jedoch nur Galle. Wie lange hatte er eigentlich schon nichts mehr gegessen? Ein Besuch bei Gioacchino wäre höchst angebracht. Dieser Gedanke war so unpassend wie fahrlässig, denn der Würgereiz begann erneut zu wüten, umso heftiger, weil er nur noch Magensäure die Speiseröhre hinaufbefördern konnte. Fermi hielt ihm ein kleines Glas mit einer klaren Flüssigkeit hin. »Austrinken!«, befahl er. Prospero gehorchte. Plötzlich hob es ihm die Fußsohlen an, und er glaubte zu schweben, während seine Kehle wie Feuer brannte. Er wollte etwas fragen, aber seine Stimmbänder versagten den Dienst. Es kam nur ein Krächzen heraus.
    »Reiner Alkohol«, erklärte der Professor. »Für die Nerven!«
    Tränen traten in Prosperos Augen, aber er fühlte sich besser. »Verzeihung.«
    »Entschuldigen Sie sich nicht. Wenn Sie nicht gekotzt hätten, wären Sie ein gefühlloses Schwein«, brummte der Pathologe. Prospero hörte eine gewisse Freundlichkeit heraus.
    Die elf Mädchen in der Morgue waren das Schlimmste, was er jemals in seinem Leben gesehen hatte. Nichts schien ihm grausamer zu sein als Biologie, wenn sie sich der Chemie
bediente und das Organische ins Anorganische wandelte. Wie tröstlich kam ihm dagegen die Theologie vor. Stirbt aber ein Mann, so ist er dahin; kommt ein Mensch um - wo ist er? Wie Wasser ausläuft aus dem See, und wie ein Strom versiegt und vertrocknet, so ist ein Mensch, wenn er sich niederlegt, er wird nicht wieder aufstehen; er wird nicht aufwachen, solange der Himmel bleibt, noch von seinem Schlaf erweckt werden. Aber Hiob sprach nur davon, dass ein Mensch sich niederlegt und versiegt, nicht aber davon, dass er grünlich wird, bevor sich der Körper marmoriert, sich Blasen auf der Haut bilden und die Organe aufquellen. Er sagte nichts von den Gasen, die in einem toten Körper entstehen, und nichts von dem süßlich-fettigen Gestank, der von ihm ausgeht, nichts von den Körperflüssigkeiten, die aus Mund und Nase treten, und er warnte auch nicht vor dem Zerfließen des Gewebes, der schrittweisen Zersetzung, die von der Natur in grausam-pedantischer Routine vorgenommen wird. Und selbst die Begriffe Versiegen und Niederlegen stimmten nicht, denn die Mädchen hatten sich nicht so einfach hingelegt, wie sie hier vor ihm aufgebahrt worden waren. Auch das Kohelet ging großzügig über die wesentlichen Details hinweg, wenn es sagte: Es ist alles aus Staub geworden und wird wieder zu Staub. Es verheimlichte die Chemie, die zwischen Staub und Staub wütete, den schleichend voranschreitenden Zerfall des Körpers. Da zwischen dem ersten und dem letzten Mord Monate lagen, demonstrierten die Leichen auf grauenvolle Weise die verschiedenen Phasen der Verwesung.
    Fermis immer etwas nörgelig wirkende Stimme drang in seine Überlegungen ein. »Gut, Signor Benjamin, beginnen Sie links, ich rechts, und dann arbeiten wir uns voller Entzücken bis zur Mitte vor.«

    »Wir beginnen mit den äußeren Merkmalen?«
    Fermi zog die Brauen hoch. »Was davon noch zu erkennen ist, ja, selbstverständlich.«
    »Die unterschiedlichen Todesdaten geben geradezu lehrbuchartig die verschiedenen Stadien des Zerfalls an«, stellte Benjamin nüchtern fest.
    »Wollen Sie etwa die Studenten hinzubitten?«, entgegnete Fermi spitz. Er hielt in der Betrachtung inne und schaute mutlos über die Obduktionstische. Eine Zornesfalte teilte seine Stirn. »Das hat doch alles gar keinen Sinn!«
    Prospero verstand ihn nicht und wollte ihn schon zu Ordnung

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