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Und tot bist du

Und tot bist du

Titel: Und tot bist du Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Mary Higgins Clark
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unten. Ich werde Sie in eine Decke einwickeln.«
    Dann bückte er sich und hob etwas vom Boden auf. Sunday unterdrückte den Widerspruch, der ihr auf der Zunge lag. Es war der schmutzige Sack, der beim Aufwachen über ihren Kopf gestülpt war. Der Mann behandelte sie zwar seltsam höflich, aber sie traute ihm nicht. Etwas stimmte daran nicht, und sie hatte das unbehagliche Gefühl, daß er nur mit ihr spielte. Sie befürchtete, daß ein schreckliches Schicksal sie erwartete. Beim Gedanken an den muffigen Sack über ihrem Gesicht hätte sie am liebsten geschrien, aber sie beherrschte sich. Sie gönnte diesem Mann nicht die Genugtuung, sie jammern zu sehen.
    Statt dessen fragte sie so ruhig wie möglich: »Warum ist das nötig? Hier gibt es sowieso nicht viel zu sehen, und es ist niemand da, zu dem ich Blickkontakt aufnehmen könnte.«

    Offenbar fand der Entführer das amüsant, denn er verzog den Mund zu einen zynischem Lächeln. Er hatte kräftige, unregelmäßige Zähne. »Vielleicht macht es mir einfach Spaß, Sie zu verwirren«, neckte er. »Das passiert nämlich, wenn man jemandem die Augen verbindet.«
    Das Licht der nackten Glühbirne fiel auf seine Hände.
    Und bevor der Sack über Sundays Kopf glitt und sie nichts mehr sehen konnte, bemerkte sie den großen goldenen Siegelring des Mannes. Das Schmuckstück hatte nichts Außergewöhnliches an sich – bis auf ein kleines Loch in der Mitte, so als ob der Stein herausgefallen wäre.
    Sie zwang sich, ruhig durchzuatmen, als ihr der Sack auf die Schultern fiel. In ihrem ersten Semester war sie wegen der Klaustrophobie, die sie von ihrem Vater geerbt hatte, in Therapie gewesen.
    Sunday versuchte, sich die Sitzungen ins Gedächtnis zu rufen, aber sie konnte sich nicht auf die Übungen konzentrieren. Ständig mußte sie an den Ring denken.
    Sie hatte ihn schon einmal gesehen. Aber wo?
    Um halb zehn Uhr abends gingen Henry und Jack Collins, flankiert von vier Justizbeamten, einen langen, schäbigen Flur entlang. Er führte zu dem kleinen Besucherraum, der dem gefährlichsten Insassen von Marion vorbehalten war.
    Marion war ein Bundesgefängnis für Schwerverbrecher.
    Henry hatte das unheimliche Gefühl, daß die Schreie ihrer Opfer von den dicken, undurchdringlichen Mauern des Gebäudes widerhallten.
    Sunday ist Claudus Jovunets Opfer, dachte Henry. Und ich ebenfalls. Die Wachen blieben an einer Stahltür stehen, die sich öffnete, nachdem einer von ihnen eine Zahlenkombination in die Schließvorrichtung eingetippt hatte.

    Jovunet saß an einem eisernen Tisch. Henry kannte ihn von den Photos, die die Zeitungen nach seiner Verhaftung abgedruckt hatten. Außerdem hatte er das Interview mit ihm in 60 Minutes gesehen, wo er prahlerisch und arrogant aufgetreten war. Glücklicherweise hatte der schlagfertige Moderator Lesley Stahl Jovunet keine Chance gelassen, sich mit seinen Taten zu brüsten. Heute trug Jovunet schäbige Gefängniskleidung, ein himmelweiter Unterschied zu dem geckenhaften Stil, den er in Freiheit bevorzugt hatte.
    Trotz der Ketten an Händen und Füßen strahlte er Ruhe und Gelassenheit aus. Und merkwürdigerweise machte er irgendwie den Eindruck, als hätte er alles im Griff.
    Sein Mondgesicht zeigte bereits die ersten Ansätze von Hängebacken, seine hellblauen Augen funkelten fröhlich, und seine schmalen, rosigen Lippen waren zu einem Dauerlächeln verzogen. Henry fühlte sich auf Anhieb von ihm abgestoßen.
    Während des Flugs nach Ohio hatte Henry eine Zusammenfassung von Jovunets umfangreicher Akte gelesen.
    Niemand wußte genau, woher er stammte. Inzwischen war er sechsundfünfzig und behauptete, in Jugoslawien geboren zu sein. Er beherrschte fünf Sprachen fließend. Als Jugendlicher hatte er Waffen nach Afrika geschmuggelt und später in verschiedenen Ländern als Auftragskiller gearbeitet. Er hatte keine Freunde und besaß die Fähigkeit, sein Äußeres so zu verändern, daß er nicht wiederzuerkennen war. Auf manchen Photos wirkte er rundlich, auf manchen durchtrainiert, auf manchen wie ein einfacher Farmarbeiter und auf anderen wiederum aristokratisch elegant.
    Nur seine Liebe zu Designerkleidung hatte er nie verleugnen können, und sie war ihm schließlich zum Verhängnis geworden – man hatte ihn bei einer Calvin-Klein-Modenschau verhaftet.

    Bei Henrys Anblick riß Jovunet die Augen auf.
    »Mr. President!« rief er aus und vollführte eine großartige Verbeugung, soweit die Ketten es zuließen. »Was für eine schöne Überraschung.

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