Und trotzdem ist es Liebe
dir verreist?» Ich merke plötzlich, dass er getrunken hat. Die Kühnheit dieser Frage verrät es, aber er spricht auch ein bisschen schwerzüngig, und die Worte verlaufen ineinander. Und so, wie ich morgens am Licht vor dem Fenster ziemlich gut einschätzen kann, wie spät es ist, kann ich auch einigermaßen sicher schätzen, dass Ben fünf Bier getrunken hat, höchstens sechs. Ich weiß allerdings nicht, ob er sie allein oder mit Tucker getrunken hat.
«Ach, sagt sie das?» Wollte Annie mir helfen, oder wollte sie mich sabotieren, als sie diese Information weitergereicht hat? Ich überlege, ob ich sagen soll, Richard sei nicht mein Freund. Aber ich weiß nicht, ob ich Ben darüber aufklären möchte. Das hängt davon ab, ob er mit jemandem zusammen ist, und das weiß ich natürlich nicht. Annies Tratsch fließt anscheinend nur in eine Richtung. Ganz gleich, was ihre Absichten waren – ich bin kurz davor, sie abzuschreiben.
«Wo warst du denn mit dem alten Richard?», fragt Ben. «Und das ‹alt› meine ich wörtlich.»
«Bist du betrunken?» Ich will ihm nicht sagen, wo ich war. «Kann sein», sagt er. «Ich hatte ja den Geburtstag meiner Exfrau zu feiern.»
«Mit Tucker?», sage ich und beweise damit, dass ich im Gegensatz zu Ben nicht erst fünf oder sechs Bier trinken muss, um unreife und biestige Fragen zu stellen.
«Das kommt darauf an, wo du mit Richard warst», sagt Ben.
«Na, entweder warst du an meinem Geburtstag mit ihr zusammen, oder du warst es nicht», sage ich.
«Tatsächlich war ich es», sagt er.
«Phantastisch», sage ich und sehe mit Staunen, wie ein einzelner Mensch mich innerhalb von Sekunden erst glücklich, dann aufgebracht sein lassen kann. Tatsächlich bin ich plötzlich so wütend, dass ich in Erwägung ziehe, meine Haltung gegenüber Richard noch einmal zu überdenken. Vielleicht werde ich doch noch ein paarmal mit ihm schlafen. Auf jeden Fall werde ich meinen Ring morgen im Büro tragen.
Ben sagt nichts. Also frage ich: «Wie habt ihr meinen großen Tag denn gefeiert, du und dein Mädel?»
«Das geht nur mich und Tucker was an», sagt er. «Wie es ja anscheinend nur dich und den guten alten Richard was angeht, an welchem geheimen Ort eure große Feier stattgefunden hat.»
Dieses «mich und Tucker» fährt mir wie ein Messer in die Brust. Es tut so weh, dass ich herausplatze: «Richard war mit mir am Comer See. In der Villa d’Este, um genau zu sein. Es war herrlich.»
Ich höre ein Klicken und begreife, dass mein betrunkener Exmann soeben einfach aufgelegt hat. Er war eine Sekunde schneller als ich.
Am nächsten Morgen rausche ich in mein Büro, schalte den Computer ein und googele «Tucker Janssen» mit zwei s . Seit vier Uhr früh habe ich nur an sie denken können – zunächst in Form eines beunruhigend anschaulichen Traums und dann hellwach, paranoid und stinksauer. Ich bin bestürzt, als ich sechs Treffer erziele, aber «bestürzt» ist kein Ausdruck, als ich den ersten Treffer anklicke und ihre grinsende Visage und einen Artikel aus der Lokalzeitung ihrer Heimatstadt erblicke (Naperville, Illinois – ich habe gewusst, dass sie aus dem Mittleren Westen kommt). Die Schlagzeile lautet: VON NAPERVILLE NACH HARVARD – MEDIZINSTUDENTIN RETTET STERBENDEN. Der Artikel ist vier Jahre alt, und das bedeutet, dass sie keine Medizinstudentin mehr ist. Sie ist eine ausgewachsene, praktizierende Ärztin. Ich überfliege den Artikel und lese, was sie gesagt hat: «Mit Reanimation bin ich seit der Junior High School vertraut, und deshalb habe ich eigentlich keine neuerworbenen Fertigkeiten eingesetzt. Aber der Zwischenfall hat durchaus zu meiner Entscheidung beigetragen, als Notärztin zu praktizieren.»
Das Herz sackt mir in die Hose. Ich greife zum Telefon und drücke auf die Kurzwahltaste für «Jess, Job».
Sie meldet sich mit einem fröhlichen Hallo. Ich höre, dass sie den Lautsprecher eingeschaltet hat.
«Stell den Lautsprecher ab», sage ich mit der Dringlichkeit, die ich empfinde.
Es raschelt, als sie den Hörer abnimmt. «Was ist denn los?»
«Sie ist Ärztin , Jess.»
«Was?»
«Ich habe sie nochmal gegoogelt. Sie ist Notfallmedizinerin.»
«Tucker?»
«Ja.» Ich kämpfe mit den Tränen.
Ich höre, wie Jess auf ihrer Tastatur klappert. «Wo siehst du das?», fragt sie dann.
«Du musst Janssen mit zwei s schreiben. Wie bei deinem Samenspender, Ian.»
Es klappert wieder. «Oooh. Jaa. Hier ist es … Ja, das ist ziemlich unglückselig …»
Ich warte auf
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