Und trotzdem ist es Liebe
tief verwurzelten Neurose, die ich schon zu Collegezeiten entwickelt habe – dem Gefühl, gründlich sein und alles abdecken zu müssen. Man könne ja nie wissen, wo der nächste große Roman sich versteckt halte. Aber davon abgesehen, sagte ich, gefalle mir einfach das Konzept von Slush .
«Inwiefern?», fragte er, während er über meine Schulter hinweg einen besonders brutalen Begleitbrief überflog. «Dir gefällt das Konzept langweiliger Plots und zahlloser Grammatikfehler?»
«Das ist schwer zu erklären», sagte ich. « Slush ist demokratisch: Es gefällt mir, einem, der sich abmüht, Schriftsteller zu werden, eine Chance zu geben. Mir gefällt die Vorstellung, dass ein Underdog wider Erwarten etwas Großes zustande bringt.»
«Na, es ist gut für mich, dass du es so siehst», sagte Ben und küsste mich. «Denn irgendwie komme ich ja von einem Slush- Stapel unverlangter Blind Dates.»
Ich musste lachen. Das sei nur zu wahr, sagte ich. «Stell dir vor, was ich verpasst hätte, wenn ich dieses Date nicht wahrgenommen hätte.»
Wann immer Ben nach diesem Gespräch zwei verschiedene Socken trug oder den Toast anbrennen ließ oder sonst etwas vermasselte, nannte ich ihn meinen slushigen Ehemann. Das war einer unserer vielen Insiderscherze.
Deshalb ist es sehr passend, dass Bens E-Mail schließlich kommt, als ich gerade ein paar Manuskripte aus diesem trostlosen Stapel überfliege, die Rosemary mir als die vielversprechendsten herausgefiltert hat. Ich blicke auf, als das Signal ertönt, und sehe erschrocken seinen Namen in meiner In-Box. Mein Herz fängt an zu rasen, und ich sitze mit halb offenem Mund da, wie gelähmt vor Angst. Die fetten Lettern von Benjamin Davenport haben etwas Ominöses. Vielleicht liegt es auch an dem Kein Betreff , das daruntersteht. Jedenfalls bin ich plötzlich sicher, dass seine Antwort knapp und grimmig ausfallen wird: Ich weiß nicht, was ein Treffen für einen Sinn haben soll; ich habe dir nichts zu sagen.
Eine ganze Stunde vergeht, bevor ich den Mut aufbringe, die Mail zu öffnen. Ich lese seine drei Sätze zweimal und versuche ihre Bedeutung zu ergründen: Die nächste Woche ist hektisch. Wie wär’s nach Thanksgiving? Passt es dir Montag?
Nichts. Ich kann seiner Mail nichts entnehmen, aber es scheint mir nichts Gutes zu verheißen, dass er meinen Namen und jede Art von freundlicher Schlussformel weggelassen hat. Und ich kann einfach nicht fassen, dass ich vier Tage auf drei nichtssagende Sätze habe warten müssen. Aber im Großen und Ganzen bin ich trotzdem erleichtert. Es hätte auch schlimmer kommen können. Ich habe immer noch ein Fünkchen Hoffnung, als ich antworte: Okay. Pete’s Tavern um 12?
Als New Yorks ältester ununterbrochen bestehender Pub ist Pete’s auch eine Touristenfalle, aber das hat Ben und mich nie gestört. Wir haben so manchen späten Abend gemütlich an der Bar verbracht – und deshalb frage ich mich besorgt, was er von meinem sentimentalen Vorschlag halten wird, kaum dass ich auf SENDEN geklickt habe. Aber seine Antwort kommt beinahe sofort: Bis dann also. Wünsch dir ein schönes Thanksgiving.
Als ich an diesem Abend nach Hause komme, sehe ich Maura und Zoe auf dem Gehweg vor Jess’ Apartment herankommen. Maura hält Zoe bei der Hand, und in der anderen trägt sie Zoes «Dora the Explorer»-Schlafsack und ihre Segeltuchtasche (mit Monogramm) von L. L. Bean. Die Schnürsenkel von Zoes pinkfarbenen Keds sind offen und schleifen über das feuchte Pflaster. Als sie mich entdeckt, quietscht sie: «Tante Claudia!», als wäre ich berühmt. Zoe ist Balsam für mein Selbstwertgefühl.
«Hey, Zoe!», rufe ich zurück. «Du kommst übers Wochenende zu mir?»
«Ja-ha!», kräht sie. «Und Mommy hat gesagt, ich darf so lange aufbleiben, wie ich will, und essen, was ich will!»
Ich sehe Maura an, um mich zu vergewissern, ob das stimmt. Meine Schwester zuckt müde die Achseln. Sie sieht abgespannt und verloren aus – als habe sie nicht mehr die Kraft, über Schlafenszeiten und zuckrige Frühstücksflocken zu diskutieren. Ich frage mich, ob das der Anfang des «Bestich deine Kinder»-Phänomens bei geschiedenen Eltern ist. Alle Kinder wissen, dass der einzige Vorteil geschiedener Eltern darin besteht, dass sie sich Moms und Dads Schuldgefühle, ihre Erschöpfung und ihr Konkurrenzstreben zunutze machen können, um auf beiden Seiten maximale Vorteile herauszuschinden. Ich weiß noch, dass Anzahl und Wert meiner eigenen Weihnachtsgeschenke sich
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