Und trotzdem ist es Liebe
Michael verliebt. Es ist ein beinahe sichtbarer Prozess – wie ein Zeitrafferfilm einer sich öffnenden Blüte. Ich habe Jess schon oft verknallt erlebt, aber zum ersten Mal ist die emotionale Intensität nicht von Drama und Angst begleitet. Es gibt keine SMS-Schlachten. Kein wütendes Hinausstürmen aus Bars. Keine Mogeleien. Keine Eifersuchtsanfälle wegen verflossener Lover. Nein, alles zwischen den beiden erscheint normal und gesund und auf wunderbare Weise beiderseitig – was sich jedes Mal bestätigt, wenn Michael bei mir im Büro vorbeikommt. Er wirkt noch fröhlicher als sonst, und unsere Unterhaltung kehrt immer wieder zu Jess zurück. Er stellt mir endlose, anrührende Fragen über sie – zum Beispiel: «Wie war sie auf dem College?» Er will all die Einzelheiten und Hintergrundinformationen, nach denen man lechzt, wenn man verliebt ist.
Natürlich freue ich mich darüber, denn so kann ich mit zwei meiner besten Freunde gleichzeitig zusammen sein. Das ist effizient, komfortabel und befriedigend.
An einem regnerischen Sonntag im November faulenzen wir drei im Jogginganzug im Wohnzimmer und lesen Zeitung, als Jess plötzlich aufblickt und sagt: «Weißt du, Claudia, eigentlich musst du Ben noch vor Thanksgiving anrufen.»
«Warum?», frage ich.
« Darum . Thanksgiving ist einer dieser entscheidenden Feiertage. Du darfst nicht zulassen, dass sie diesen Schritt zusammen tun.»
«Welchen Schritt?»
«Dass sie das lange Wochenende miteinander verbringen … Wenn das die Richtung ist, in die es geht, musst du dazwischengehen und die Sache platzen lassen.»
Michael lässt den Wirtschaftsteil sinken und zwinkert mir zu. «Ja, sie hat recht, Claudia. Thanksgiving mit jemandem zu verbringen, das ist ein großer Schritt nach vorn. Um ein Vielfaches bedeutsamer, als den Eltern vorgestellt zu werden.»
Die beiden wechseln einen Blick voller Anbetung, und mir wird klar, dass hier eine Einladung zu Thanksgiving nicht nur ausgesprochen, sondern auch angenommen worden ist. Überrascht sehe ich Jess an. Über ihre Feiertagspläne hat sie kein Wort zu mir gesagt. Mir fällt auf, dass sie zum ersten Mal nicht jeden belanglosen Aspekt ihrer Beziehung mit mir erörtert. Es gibt keine Strategiesitzungen, keine Spekulationen darüber, was Michael wohl denkt, keine Analysen darüber, was etwas, das er getan (oder nicht getan) hat, bedeutet (oder nicht bedeutet). Vielleicht liegt es daran, dass sie noch nie etwas mit einem Freund von mir angefangen hat; vielleicht will sie mich nicht in eine schwierige Lage bringen. Aber der Grund ist wahrscheinlich eher, dass sie endlich eine aufrichtige Beziehung gefunden hat, in der sie ihrem eigenen Bauchgefühl folgt, statt bei jedem Schritt ihre Freunde nach ihrer Meinung zu fragen.
«Moment mal», sage ich mit gespielter Verblüffung, «wollt ihr beide vielleicht Thanksgiving miteinander verbringen? In Birmingham?»
Jess fängt an zu strahlen, und ihre Stimme wird ganz weich. «Ja. Michael fährt mit mir nach Hause.»
Ich sehe Michael an. «Ach, wirklich? Ein mächtig großer Schritt für einen wie dich.»
«Wem sagst du das? Ich riskiere mein Leben, wenn ich da runterfahre.»
Jess verdreht die Augen. «Sag das nicht dauernd!» Sie sieht mich an. «Er tut so, als ginge es zurück in die fünfziger Jahre, wenn er die Mason-Dixon-Linie überschreitet.»
Michael lacht. «Ich will bloß nicht gelyncht werden, wenn ich mich da mit einer Blondine zeige.»
Jess runzelt die Stirn. Sie ist sehr stolz auf ihre Südstaatenwurzeln, auch wenn sie kein Verlangen danach hat, wieder in Alabama zu leben. «Bist du bald fertig?»
Michael nimmt ihre Hand. «Sorry, Babe. Du weißt doch, ich kann es nicht erwarten, deine Familie kennenzulernen und deine alten Jagdgründe zu sehen.»
Jess ist voll und ganz beschwichtigt. Michael beugt sich hinüber und küsst sie. Beide öffnen den Mund ein wenig, als wäre ich nicht im Zimmer. Ich vertiefe mich in meine Zeitung und stelle mir vor, wie Ben das Gleiche mit Tucker tut. Jess und Michael haben recht. Ich muss ihn noch vor dem Feiertagswochenende erwischen.
Als ich am nächsten Morgen ins Büro komme, bin ich entschlossen, Kontakt mit Ben aufzunehmen, bevor der Tag zu Ende ist. Der beste Weg ist eine E-Mail, denke ich angesichts unseres letzten zänkischen Telefonats. Die nächste halbe Stunde am Schreibtisch verbringe ich damit, die Anrede zu entwerfen. Aus Lieber Ben wird Hallo, Ben , dann Hi, Ben und schließlich einfach Ben . Ich hänge einen
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