Und trotzdem ist es Liebe
verdoppelten, nachdem meine Mutter uns verlassen hatte.
Zoe lässt Mauras Hand los und rennt mir entgegen. Ich hocke mich hin, um ihr die Schnürsenkel zu binden. Dann drücke ich ihr einen Kuss auf die kalte rosarote Wange und flüstere ihr ins Ohr: «Rate mal, was ich für dich habe!»
«Was denn?», fragt Zoe aufgekratzt.
«Pop-Tarts!»
Erdbeer-Pop-Tarts sind Zoes Leibspeise – aber sie darf sie nur zu besonderen Gelegenheiten essen. Bis jetzt hat Maura immer auf Bio-Lebensmitteln bestanden.
«Welche Sorte?», fragt Zoe.
«Erdbeere. Mit Zuckerguss und Streuseln», sage ich. «Ist doch klar.»
Zoe strahlt. Es ist schön, wenn man jemandem so leicht eine Freude machen kann. Ich wünschte nur, ich könnte Mauras Probleme genauso lösen. Ich richte mich auf und lege meiner Schwester den Arm um die Schultern. Ich kann ihre Rippen und ihre spitzen Schulterblätter durch den Burberry-Trenchcoat fühlen. «Du bist so dürr, Maura», sage ich. «Ich mache mir Sorgen um dich …»
Maura seufzt und berührt ihren Wangenknochen. «Ich weiß. Ich sehe ausgemergelt aus, nicht wahr?»
«Du siehst nicht ausgemergelt aus. Nur … zu dünn. Du musst auf dich aufpassen –»
«Es ist komisch», sagt Maura. «Bis vor einer Woche habe ich immer gedacht, man kann nicht zu dünn oder zu reich sein … Aber jetzt bin ich nicht mehr so sicher … Ich wäre lieber arm, fett und glücklich.»
Zoe unterbricht sie. «Ist Jess auch zu Hause? Darf ich ihre Schuhe anprobieren?»
«Natürlich! Alle hundert Paar!» Wenn ich in Zoes Augen ein B-Promi bin, ist Jess Madonna. Selbst eine Sechsjährige hat ein Gespür für Schönheit und Stil.
Maura wirft einen Blick auf ihre Cartier-Armbanduhr. «Okay. Die Jungs sind bei Daphne … Scott erwartet mich um acht … Ich muss nach Hause.»
«Viel Glück», sage ich, und dann lege ich ihr eine Hand auf den Arm und sage ihr, dass ich sie liebhabe. Das sagen Maura und ich uns nur selten, auch wenn wir es nie bezweifeln.
«Ich hab dich auch lieb, Claudia. Danke.» Sie kniet vor ihrer Tochter nieder und streicht ihr die Haare aus dem Gesicht. «Und dich hab ich auch lieb, mein Hase.»
«Ich hab dich lieb, Mommy», sagt Zoe und schlingt die Arme um den Hals ihrer Mutter.
«Sei brav bei Tante Claudia.»
«Versprochen, Mommy.»
Maura lächelt ihre Tochter an. Dann steht sie auf und dreht sich zu mir um.
«Ruf mich an, sobald du kannst», sage ich.
Sie nickt, wendet sich ab und geht schnell zu ihrem silbergrauen Range Rover. Ihre hohen Absätze klappern auf dem Pflaster. Ich schaue ihr ein paar Sekunden sorgenvoll nach. Verglichen mit dem Wochenende, das vor ihr liegt, erscheint mir mein Lunch-Date in Pete’s Tavern wie ein belangloses Treffen. Wahrscheinlich ist das die Wirkung, die drei unschuldige Kinder in dieser Gleichung haben.
Als ich auf Zoe hinunterschaue, sehe ich, dass sie ebenfalls bekümmert aussieht. Blinzelnd schaut sie zu, wie ihre Mutter den Motor anlässt und losfährt. Maura winkt und hupt kurz. Zoe winkt zurück und flüstert: «Wiedersehen, Mommy.»
Noch nie habe ich meine Nichte so traurig gesehen. Ob sie spürt, dass etwas nicht in Ordnung ist? Oder liegt es nur daran, dass sie noch ein bisschen zu klein ist, um zwei Nächte fern von zu Hause zu verbringen? Ich fahre ihr durch das Haar. «Wollen wir zusehen, dass wir aus der Kälte kommen, Zoe Schätzchen?»
Sie nickt. «Tante Claudia?» Ihre Stimme hebt sich, hoch und fragend.
«Ja, Süße?» Nervös warte ich auf ihre Frage.
Und natürlich ist es eine ihrer typischen Fragen. «Warum ist Mommy so traurig?»
Ich gebe ihr eine meiner intergalaktischen Antworten. «Mommys sind manchmal traurig. Das ist alles …»
Zoe seufzt. «Aber gestern im Auto hat sie das S-Wort gesagt. Und dann hat sie geweint.»
«Mommys benutzen manchmal unanständige Wörter. Und manchmal sind sie traurig», sage ich. «Aber das wird auch wieder besser. Alles wird wieder gut.»
«Versprochen?» Ihre blauen Augen sind groß vor Sorge.
Ich gerate in Panik, weil ich nicht weiß, was die richtige Antwort darauf ist. Darf ich ihr so etwas versprechen? Was bedeutet «gut»? Ich möchte Zoe keinesfalls anlügen. Plötzlich erinnere ich mich an eine beunruhigende Folge von Familienduell , die ich gesehen habe, als ich vielleicht sieben war. Die letzte Frage in der Bonusrunde lautete: «Welches waren die fünf größten Lügen deiner Eltern?» Ich weiß noch, dass ich mir das Hirn zermarterte, um etwas zu finden, während die Familie
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