Und trotzdem ist es Liebe
Konferenzschaltung rufen wir unsere Freude an, und die nehmen das Angebot gern an.
Am folgenden Freitagabend fahren Ben und ich also mit dem Taxi zu Annie und Ray und steigen die Treppe zu ihrer Wohnung im zweiten Stock hinauf (nicht ohne dass ich anmerke, wie mühsam es sein wird, hier einen Kinderwagen hinauf- und hinunterzuschleppen). Ich hoffe auf ein ausgemergeltes Elternpaar, auf wüste Unordnung und den Gestank von saurer Milch, durchweht von den Ausdünstungen schmutziger Windeln. Aber Ray kommt glattrasiert und vergnügt an die Tür, und ich registriere bestürzt, wie makellos das Apartment aussieht. Neil Youngs «Good To See You» läuft ein bisschen lauter, als man es in einer Wohnung mit einem Neugeborenen erwarten würde, das wie ein Engel in seinem Autositz liegt und schlummert.
«Wo geht ihr denn heute Abend hin?», frage ich. Ich kann es nicht erwarten, sie loszuwerden. Sie sollen das Baby nur bei Ben und mir lassen. Den Scheinwerfer auf unsere grandiose Inkompetenz richten.
«Plan geändert», sagt Annie fröhlich, und mir fällt auf, dass sie wunderschön aussieht. Sie hat das Haar zu einem glatten Knoten im Nacken gebunden, und sie hat immer noch dieses Schwangerschaftsleuchten.
«Was denn? Zu müde, um auszugehen?», frage ich hoffnungsvoll.
«Nein. Wir gehen zusammen aus. Im Pastis wartet ein Vierertisch auf uns», verkündet Ray.
Im Stillen verfluche ich mich dafür, dass ich nur eine hübsche Jeans, ein einfaches schwarzes Top und flache Schuhe angezogen habe. Aber ich kann nicht gut protestieren, nur weil ich im Babysitter-Dress bin. «Ich habe Turnschuhe an» wäre aber auch nicht die Sorte Ausrede, die meine Freunde akzeptieren würden.
«Seid ihr sicher?», frage ich. «Wir wollten, dass ihr mal ein bisschen Zeit für euch habt.»
«Nein! Ihr habt uns gefehlt!» Annie umarmt mich.
«Und wer passt auf Ray junior auf?», fragt Ben.
«Der kommt mit», zwitschert Annie.
«Im Ernst?», frage ich.
Annie nickt.
«Er schläft die ganze Zeit. Ihm geht’s prima!» Wie zum Beweis hebt Ray den Autositz mit seinem Sohn hoch. «Hey – wollt ihr ihn mal auf den Arm nehmen, bevor wir losgehen? Wir haben noch ein paar Minuten Zeit … Er wird davon nicht wach.»
«Gern. Ich muss mir nur die Hände waschen.» Ich erinnere mich an die Bakterienbesessenheit meiner Schwester nach der Geburt ihres ersten Kindes.
Ich gehe zum Spülbecken in der Küche, schrubbe mir die Hände und überdenke meine Strategie. Soll ich ihn ein bisschen schütteln, damit er aufwacht? Soll ich ihn ungeschickt auf den Armen balancieren, um zu demonstrieren, dass Babys nicht mein Ding sind? Ich trockne mir die Hände ab und entscheide, dass solche Tricks vielleicht zu offensichtlich sind. Also nehme ich das Baby behutsam aus Rays ausgestreckten Armen. Ich halte das kleine Köpfchen mit der freien Hand und setze mich zu Ben auf die Couch. Beide starren wir auf Raymond jr. hinunter. Er trägt einen weißen Kaschmir-Strampelanzug und eine passende Mütze. Er schläft tief und fest, und ich weiß sofort: Er wird mich anschmieren und die Rolle des perfekten Babys spielen.
Wir plaudern ein paar Minuten, und dann sagt Ben: «Darf ich auch?»
Annie strahlt. «Natürlich!»
Ben ist ein Naturtalent; er vollzieht die Übernahme mit Leichtigkeit. Raymond jr. klappt ein Auge auf und späht zu Ben herauf. Dann gähnt er, zieht die Knie an die Brust und schläft wieder ein. Ben sieht hingerissen aus.
«Sehen sie nicht entzückend aus zusammen?», sagt Annie.
Ich nicke, und es ärgert mich, dass meine Freundin das Wort «entzückend» benutzt. Es ist das erste Anzeichen dafür, dass sie sich verändert hat. Die alte Annie hätte niemals ein Wort wie «entzückend» gebraucht – höchstens ironisch-abschätzig.
Ben streicht sanft mit dem Finger über Raymond jrs. Wange. «Nicht zu fassen, wie weich seine Haut ist.»
Bravo, denke ich. Könnte er nicht wenigstens ein kleines Ekzem oder Babyakne haben?
Ben schwärmt immer weiter. «Sieh mal, Claudia. Sieh mal, wie winzig seine Finger sind.»
Raymond jr. umklammert Bens Daumen, und ich frage mich, wie ich gegen eine solche Nummer konkurrieren soll. Der Bengel ist gut .
«Schreit er nie?», fragt Ben.
Annie sagt, nicht viel. Er sei ein sehr umgängliches Baby.
Natürlich .
«Wir können wirklich von Glück sagen», fügt Ray hinzu. «Nachts müssen wir ihn tatsächlich zum Füttern wecken.»
«Das ist aber höchst ungewöhnlich», sage ich mit einem nervösen Seitenblick auf
Weitere Kostenlose Bücher